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Wandlung des Weltbildes

Wenn die verschiedenen Paradigmen miteinander inkommensurabel sind, so muß der Wechsel des Paradigmas eine Änderung des Weltbildes mit sich bringen, die keinen definierten Übergang erlaubt. Kuhn veranschaulicht dies mit dem psychologischen Begriff des Gestaltwandels, der z.B. bei der längeren Betrachtung eines zweideutigen Bildes stattfindet. Betrachtet man z.B. Abb. 7, so sind zwei Betrachtungsweisen möglich: Entweder man sieht in dem Bild eine Ente oder man sieht ein Kaninchen. Beides ist nicht möglich, und es dürfte schwerfallen, jemandem, der in dem Bild vorwiegend eine Ente sieht, von der Richtigkeit der Sicht des Kaninchens zu überzeugen.
Ein vergleichbarer Effekt vollzieht sich mit dem wissenschaftlichen Weltbild im Verlauf eines Paradigmenwechsels. Obwohl die Welt als Untersuchungsgegenstand sich nicht geändert hat, wird sie doch in einem völlig anderem Licht betrachtet. Nur so ist es zu erklären, wie unterschiedlichen Paradigmen eine neue, oftmals von Grund auf andere Bewertung der gleichen Fakten zur Folge haben. Die himmlische ewige Physik wird plötzlich durch den Wechsel von Aristoteles zu Newton eins mit der unvollkommenen irdischen, obwohl man nicht behaupten kann, daß sich am Himmel oder auf der Erde für einen neutralen Beobachter irgendetwas geändert habe. Ebenso könnte man sagen, daß sich die Masseneigenschaft eines Körpers mit dem Übergang von der newtonschen zur einsteinschen Masse nicht geändert hat. Hier stellt sich jedoch erneut das Problem eines theorieunabhängigen Massenbegriffs ein. Insofern könnte man auf die Idee kommen - und Kuhn tut dies auch - nicht nur von einer Wandlung des Weltbildes, sondern von einer Wandlung der Welt an sich zu sprechen, ebenso, wie man von einer Wandlung der Gestalt in Abb. 7 sprechen kann.


 
Abbildung 7: Ein Gestaltwandel: Ente oder Kaninchen? ([Chr96])
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Abbildung: Die Hysterese der Wahrnehmung bei einem kontinuierlichen Gestaltwandel: Schweift der Blick auf dem Bild von einer Kante zur anderen, so bemerkt das Gehirn erst ein Stück hinter dem Mittelpunkt den eingetretenen Gestaltwandel. (M.C. Escher: Tag und Nacht)
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Als Beispiele für Gestaltwandel in der Wissenschaft führt Kuhn interessanterweise auch die Ausbildung eines Studenten in einer bestimmten Wissenschaft an: sieht z.B. ein Student der Medizin zum ersten mal in seiner Ausbildung ein Röntgenbild eines Brustkorbs, so fällt ihm das Bild der Rippen und der Wirbelsäule auf. Ein ausgebildeter Arzt wird darin aber vielleicht eher das für normale Augen schwach erkennbare Bild der Lunge betrachten und Vermutung über deren Zustand anstellen, der einem Experten auf dem Gebiet wiederum sogar direkt ins Auge springen mag. Ebenso sieht ein ausgebildeter Astronom sicherlich etwas Anderes, wenn er in den nächtlichen Himmel blickt, als ein Anfänger auf diesem Gebiet. Daß sich dieser Effekt auch auf die wissenschaftliche Untersuchung überträgt, belegt die Tatsache, daß in der westlichen Kultur, die durch die Überzeugung geprägt war, daß die Himmelskörper etwas Ewiges, Unvergängliches darstellten, neue Sterne und Kometen sehr viel später (z.B. erst durch Tycho Brahe) entdeckt wurden als in China, wo die herrschende Auffassung Veränderungen im Kosmos nicht ausschloß.
Auch dieser Zusammenhang findet sich in dem von uns vorrangig betrachteten Zeitraum der kopernikanischen Wende als Anekdote wieder: Galilei forderte den bedeutendsten Theologen seiner Zeit, Kardinal Robert Bellarmin (1542 - 1621) auf, durch das Fernrohr zu sehen, um seine Ergebnisse mit eigenen Augen nachzuvollziehen. Bellarmin sah jedoch nicht das, was Galilei sah und konnte so nicht überzeugt werden. Es wäre einfach zu behaupten, daß Bellarmin sehr wohl dasselbe sah wie Galilei, es aber nicht glauben oder zugeben wollte (eine solche Überzeugung würde der gefährlichen Tendenz folgen, ein Urteil darüber fällen zu wollen, wer in der Geschichte Recht gehabt hat und wer nicht, tatsächlich kann man aber lediglich feststellen, welche Auffassung sich durchgesetzt hat, was die Vertreter anderer Auffassungen nicht automatisch zu Dummköpfen abstempeln muß). Nimmt man jedoch die Ergebnisse der Psychologie (die man mit dem Selbstexperiment am Enten-/Kaninchenbild nachvollziehen kann) ernst, so sieht man, daß Sinneswahrnehmungen höchst abhängig von den persönlichen Erwartungen und Gedankengängen sind. Nun könnte man sich auf die Objektivität von Meßergebnissen berufen, die man als von Sinneswahrnehmungen unabhängig einstuft. Doch auch hier sieht man aus den Betrachtungen zur Anomalie in 4.2.1, daß Meßergebnisse nicht im theoriefreien Raum auswertbar sind, ja häufig der experimentelle Aufbau bereits bestimmte Erwartungen realisiert.

Aus Obigem folgt nun, daß die Welt nicht in objektiven Maßstäben beschrieben oder gemessen werden kann. Folglich ist es legitim, nicht bloß von der Wandlung des Weltbildes, sondern von der Wandlung der Welt an sich zu sprechen.


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Tim Paehler
1998-10-04