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Anomalien und die Reaktion der Wissenschaftler

Wenn von den Paradigmen eine so starke Bindung der Wissenschaftler ausgeht, wie dies oben beschrieben ist, dann erscheint die Frage bedeutsam, wie experimentelle Befunde, die den Vorhersagen der Paradigmen widersprechen, - sogenannte Anomalien - von Wissenschaftlern behandelt werden.
Untersucht man diese Frage jedoch genauer, so fällt auf, daß es nicht ohne weiteres möglich ist, experimentelle Tatsachen eindeutig als einer Theorie widersprechend zu erklären. So konnte man zunächst hoffen, die Ungenauigkeiten der ptolemäischen Planetenbahnbeschreibung durch die Erhöhung der Anzahl von Ausgleichskreisen in den Griff zu bekommen, dem ähnlich war die Beschreibung fliegender Körper innerhalb der aristotelischen Physik durch Einführung des virtus movens, der bewegten Luft um den Körper, die die Geschwindigkeit aufrechterhält.
Weiterhin würde ein Wissenschaftler, der im Rahmen eines bestimmten Paradigmas Messungen durchführt, bei einem unerwarteten Ergebnis lange zögern, bevor er die absoluten Grundlagen seines Tuns - und nichts anderes stellt das Paradigma aufgrund seiner jahrzehntelangen Ausbildung in diesem dar - angreift. Es wäre nämlich für den wissenschaftlichen Betrieb kontraproduktiv, bei der Unfähigkeit, ein Rätsel zu lösen, dem Rätsel, bzw. dem Paradigma, welches das Rätsel formuliert, die Schuld zuzuschieben.
Der nach Kuhn bezeichnende Spruch ``Das ist ein schlechter Zimmermann, der seinem Werkzeug die Schuld gibt.'' beschreibt das Dilemma, in der sich ein Wissenschaftler im Ansehen seiner Kollegen befindet, wenn er zu einem Problem keine Lösung angeben, sondern nur die Grundlagen seines bisherigen Vorgehens in Frage stellen kann.
Ein ähnliches Szenario im Umgang mit Anomalien entwirft Imre Lakatos (der sich als Rationalist in der Nachfolge Poppers zu Kuhns Thesen ansonsten eher kritisch äußert) pointiert in [Lak74]:

``Die Geschichte betrifft einen imaginären Fall planetarischer Unart. Ein Physiker in der Zeit vor Einstein nimmt Newtons Mechanik und sein Gravitationsgesetz N sowie die akzeptierten Randbedingungen A und berechnet mit ihrer Hilfe die Bahn eines eben entdeckten kleinen Planeten p. Aber der Planet weicht von der berechneten Bahn ab. Glaubt unser Newtonianer, daß die Abweichung von Newtons Theorie verboten war und daß ihr Beweis die Theorie N widerlegt? - Keineswegs. Er nimmt an, daß es einen bisher unbekannten Planeten p' gibt, der die Bahn von p stört, Er berechnet Masse, Bahn etc. dieses hypothetischen Planeten und ersucht dann einen Experimentalastronomen, seine Hypothese zu überprüfen. Aber der Planet p' ist so klein, daß selbst das größte vorhandene Teleskop ihn nicht beobachten kann: Der Experimentalastronom beantragt einen Forschungszuschuß um ein noch größeres Teleskop zu bauen. In drei Jahren ist das Instrument fertig. Wird der unbekannte Planet p' entdeckt, so feiert man diese Tatsache als einen neuen Sieg der Newtonschen Wissenschaft. - Aber man findet ihn nicht. Gibt unser Wissenschaftler Newtons Theorie und seine Idee des störenden Planeten auf? Nicht im mindesten! Er mutmaßt nun, daß der gesuchte Planet durch eine kosmische Staubwolke vor unseren Augen verborgen wird. Er berechnet Ort und Eigenschaften dieser Wolke und beantragt ein Forschungsstipendium, um einen Satelliten zur Überprüfung seiner Berechnungen abzusenden. Vermögen die Instrumente des Satelliten (darunter völlig neue, die auf wenig geprüften Theorien beruhen) die Existenz der vermuteten Wolke zu registrieren, dann erblickt man in diesem Ergebnis einen glänzenden Sieg der Newtonschen Wissenschaft. Aber die Wolke wird nicht gefunden. Gibt unser Wissenschaftler Newtons Theorie, seine Idee des störenden Planeten und die Idee der Wolke, die ihn verbirgt auf? - Nein! Er schlägt vor, daß es im betreffenden Gebiet des Universums ein magnetisches Feld gibt, das die Instrumente des Satelliten gestört hat. Ein neuer Satellit wird ausgesandt. Wird das magnetische Feld gefunden, so feiern Newtons Anhänger einen sensationellen Sieg. Aber das Resultat ist negativ. Gilt dies als eine Widerlegung der Newtonschen Wissenschaft? - Nein. Man schlägt entweder eine neue, noch spitzfindigere Hilfshypothese vor, oder ... die ganze Geschichte wird in den staubigen Bänden der wissenschaftlichen Annalen begraben, vergessen und nie mehr erwähnt.''
Dieses Szenario mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, bei genauerer Betrachtung jedoch zeigt es genau das wissenschaftstheoretische Dilemma, nach dem eine Anomalie nach objektiven Gesichtspunkten nicht klar zu definieren ist - wodurch ein weiteres Argument gegen eine rein falsifikationistische Sicht geliefert wird.


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Tim Paehler
1998-10-04