III. Beispiele, Anwendungen und "Spielereien"

 

Anwendungen der Theorie reichen vom Auswuchten von Rädern über den Kreiselkompaß, den künstlichen Horizont ## Navigationsgeräte kurz in: French, 1995. Ausführlich in: Grammel, 1950. ## , der Rotation von Geschossen bis zur Kernspintomographie in der Medizin.

 

III.1 Fahrrad

Beim Fahrrad können Sie die Felgen als symmetrische Kreisel betrachten. Fahren Sie exakt geradeaus, so ändern Sie die Richtung der Fahrradachsen (= Drehimpulsachsen) nicht.

Als geübter Radfahrer fallen Sie nicht um. Das liegt daran, daß Sie der geringsten seitlichen Kippbewegung direkt "gegenlenken". Dieses Drehen am Lenkrad bewirkt durch die Kreiselwirkung ## S. Kapitel I.4 "Präzession". Ähnlich funktioniert auch der Schlicksche Schiffskreisel, ein großer Kreisel mit einem Freiheitsgrad dämpft seitliche Schlingerbewegungen. ## des Rades eine Kraft entgegen der Kipprichtung. Gewichtsverlagerungen spielen ebenfalls eine große Rolle.

 

III.2 Die Erde als Kreisel

 

Als Folge der Zentrifugalkräfte der Erdrotation w ist der Äquatordurchmesser der Erde mit 12756 km etwa 43 km größer als der Poldurchmesser von 12713 km. Die Erde kann in grober Näherung als abgeplatteter, symmetrischer Kreisel betrachtet werden, der so rotiert, daß die Richtungen der Figurenachse, L und w fast, aber nicht genau übereinstimmen.

 

Wegen der Abplattung der Erde übt die Schwerkraft von Mond und Sonne ein Drehmoment auf die Erde aus, und der Drehimpuls der Erde präzessiert mit einer Periode von 26000 Jahren. Dadurch stimmen Sternbilder ## Die Rückwanderung des Frühlingspunktes auf der Ekliptik war schon dem Astronomen Hipparchos von Nicea (~190 - ~125 v. Chr.) bekannt. Er stellte u. a. einen Sternenkatalog zusammen, maß die Entfernungen von Sonne und Mond und entdeckte die Rückwanderung des Frühlingspunktes auf der Ekliptik. ## und Kalendermonate im Lauf der Zeit immer schlechter miteinander überein; seit ihrer Benennung vor etwa 2000 Jahren haben sie sich um fast ein Sternzeichen verschoben ## Ausführlich in: French, 1995 §14.20. ## .

Da Sie nie wissen, ob dies bei Horoskopen berücksichtigt wurde, können Sie bei solcher Lektüre also getrost zwischen zwei Tierkreiszeichen, dem "Ihrigen" und dem davor, wählen.

 

 

 

Dieser komplizierten Präzessionsbewegung überlagert sich noch folgende kräftefreie Nutation ## Nach Honerkamp/Römer, 1993. ## , welche zu einer beobachtbaren Rotation von w um die Figurenachse führt. Die Umlaufzeit hierbei ist

nach Kapitel I.3.7 T = 2p  / |w F| = .

Sieht man die Erde als abgeplatteten Rotationsellipsoid mit der Abplattung an, so erhält man mit w z = 2p  / Tag eine Umlaufzeit T von etwa 300 Tagen. Diese Vorhersage wurde erstmals von Euler im Jahre 1765 gemacht. Im Jahr 1888 wurden schließlich Nutationsbewegungen der Erdachse durch F. Küstner nachgewiesen; die erste genauere Messung stammt von S. Chandler aus dem Jahr 1891. Er konnte aus der komplizierten Bewegung des Himmelspols eine Komponente mit einer Periode von ungefähr 418 Tagen nachweisen. Der halbe Öffnungswinkel beträgt nur 0,3" (Bogensekunden), das entspricht etwa 9 m auf der Erdoberfläche. Zum Vergleich: Der scheinbare Durchmesser der Vollmondscheibe beträgt etwa 1800". Die Diskrepanz zur Eulerschen Vorhersage erklärt sich daraus, daß der Erdkörper nicht als völlig starr angenommen werden kann.

 

Es sind noch andere Bewegungen der Erdachse überlagert, die in der Astronomie ebenfalls als Nutationen bezeichnet werden:

 

Von derselben Größenordnung ist eine Polschwankung mit einer Periode von 365 Tagen, die ihre Ursache im jährlichen Abschmelzen der Polkappen hat.

 

Wesentlich größer ist die Schwankung der Polhöhe (Lunisolarnutation), die durch die Gezeitenkräfte von Sonne und Mond verursacht werden. Ihre wichtigste Komponente hat eine Amplitude von 9" und eine Periode von etwa 18,6 Jahren. Wegen dieser größeren Periodenlänge ist sie von den eigentlichen Nutationseffekten klar abtrennbar.

Ebenso tragen die anderen Planeten geringfügig zur Erdpräzession bei.

 

III.3 Die Larmor- Präzession

 

Klassisch saust ## Nach Stauffer, 1989. ## im Atom ein Elektron um den Atomkern herum, was wegen der Ladung q = -e zu einem elektrischen Kreisstrom I = q /T (T = 2p /w ) und damit zu einem magnetischen Dipolmoment m  = I A (Fläche A = p  r²) führt.

 

Mit I = q / T = -e w  / 2p , A = p  r² und mit |L| = m w  r²

erhält man für das Dipolmoment m  =  L.

Mit dem Bohrschen Magneton m B := ,



definiert als das magnetische Moment, eines Elektrons mit Drehimpuls |L| = h ergibt sich m L = g L ,

wobei der Proportionalitätsfaktor g L nur durch die Quantenmechanik zu erklären ist, in diesem Fall aber gilt g L = 1.

 

Wirkt auf die magnetischen Momente ein äußeres Feld B, so strebt m L eine Ausrichtung zu B an und es folgt eine Präzessionsbewegung um B mit

 


w L = g L

analog zu (I.4.2) .

 

III.4 Der Spielkreisel

 

Der bewegliche Kinderkreisel, der nicht die in Bild III.2 dargestellte "feste" Raumposition einnimmt sondern dessen Unterstützungspunkt in einer horizontalen Ebene spielt, hat fünf Freiheitsgrade ## Klein / Sommerfeld, Bd. 1, 1922 ## , drei der Rotation und zwei der Translation.

Wir gehen grundsätzlich davon aus, daß der Kreisel eine enorme Eigenrotation w z um die Figurenachse besitzt - etwa indem wir ihn mit Hilfe einer Schnur angetrieben haben. Nutationen sind dann meist nicht wahrnehmbar (vgl. Bild III.4).

Beobachtet man einen solchen Kreisel, so stellt man fest, daß er im ersten Teil der Bewegung eine Bahn gemäß Bild III.3 beschreibt. Die Bahnkurve von Kreiselspitze (oben) und Auflagepunkt (unten) ist kein geschlossener Kreis, sondern eine spiralförmige Bahn, die von außen nach innen durchlaufen wird.

d. h. der Kreisel richtet sich auf und bleibt dann einige Zeit gemäß Bild. III.2 "stehen". Nach einiger Zeit fängt er dann wieder an zu präzessieren, bis er schließlich am Boden aufschlägt.

 

Man bemerkt häufig ein Mitschwingen der Unterlage, was sich dem Tastsinn als auch dem Ohr bemerkbar macht. Die hierfür erforderliche Energie wird dem Kreisel entzogen. Im Endeffekt zeigt sich, daß vertikale Schwingungen der Unterlage und somit des Kreisels ein Abklingen der bestehenden kleinen Nutationen mitbewirkt ## F. Klein und A. Sommerfeld VII§10. ##

. Ebenso verantwortlich für das Abklingen der Nutationen ist jedoch der wesentliche Faktor der gesamten Bewegung: die Bodenreibung.

Aufgrund der obigen Aussagen können wir Nutationen ausschließen und bezeichnen die Bewegung als Präzessions-ähnlich: der Neigungswinkel q ist nur langsam veränderlich, und die Bahnen des Stützpunktes sind nahezu kreisförmige Spiralen, die nahezu gleichförmig durchlaufen werden.

 

Bild III.4 mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus: Klein / Sommerfeld, Theorie des Kreisels Heft 3, © 1923 B.G. Teubner Stuttgart und Leipzig.

 

Betrachtung der Bodenreibung

Hier verfolge ich eine Betrachtung aus Bergmann-Schäfer ## Bergmann / Schäfer, 1974. ## und folge nicht den interessanten und ausführlichen Beschreibungen F. Kleins und A. Sommerfelds, in der alle Möglichkeiten der Bewegung qualitativ diskutiert werden. Das sprengte den Rahmen dieser Arbeit.

Gehen wir davon aus, daß das untere Ende des Kreisels nicht derart spitz ist, daß es sich in die Unterlage bohrt - dann wäre der Auflagepunkt ortsfest - sondern denken wir uns das Ende gemäß Bild III.5 abgerundet. Vereinfacht man die Bewegung des Kreisels zu einer (erheblichen!) Rotation ausschließlich um die Figurenachse, so beschreibt der Auflagepunkt auf dem abgerundeten Ende eine Kreisbahn, von der in Bild III.5 der Durchmesser dargestellt ist. Längs dieser Bahn rollt der Kreisel bei seiner präzessions-ähnlichen Bewegung auf der Bodenfläche ab. Wenn nun zwischen Kreisel und Boden Reibung vorhanden ist, so bewirkt die Rotation des Kreisels ein beschleunigtes Vorrücken des Kreisels längs der Bahnkurve (vgl. Bilder III.5 und III.3). Wie wir in den vorhergehenden Erörterungen gesehen haben ## Vgl. Kap. "Präzession", "Kreiselwirkung" und "Überlagerung von Präzession und Nutation" ## , bewirkt eine Beschleunigung der Figurenachse in Richtung der Präzessionsbewegung ein Aufrichten der Figurenachse. Ebenso kann man die Reibung als horizontal wirkendes Drehmoment betrachten, wodurch der Kreisel aufgerichtet wird. Hierin muß sich auch das phänomenale Verhalten des Stehaufkreisels ## Kuypers, 1993 beschreibt den Stehaufkreisel ausführlich. ## begründen.

Die hinzukommende Lageenergie wird der Rotationsenergie des Kreisels entzogen.

Im zweiten Teil der Bewegung steht der Kreisel auf der Stelle. Die Rotation wird, wie natürlich schon während des Aufrichtens, durch die Reibung abgebremst, bis schließlich Unebenheiten des Bodens den Kreisel zum Schwanken und erneut in eine präzessions-ähnliche Bewegung bringen. Die Eigenrotation und somit die Kreiselwirkung wird weiterhin durch Reibung geschwächt, so daß der Kreisel schließlich den Boden berührt.

 

Die seitliche Wanderung der Bahn eines Spielkreisels - in Bild III.4 von links nach rechts - ist auf eine Neigung der Ebene zurückzuführen.

 

III.5 Der Stehaufkreisel ## Kuypers, 1993 beschreibt den Stehaufkreisel ausführlich. ##

 

Die im Handel erhältlichen Stehaufkreisel haben stets eine der in Bild III.6 dargestellten ähnliche Form. Ohne Drehung ist die Lage a stabil. Erteilt man einem solchen Kreisel eine große Rotation um die Symmetrieachse, so neigt er sich immer weiter zur Seite. Schließlich berührt der Stift den Boden und ruckartig richtet sich der Kreisel auf und rotiert in der Lage b weiter. Nach einiger Zeit hat die Reibung die Rotationsgeschwindigkeit wieder auf einen kritischen Wert reduziert, bei dem der Kreisel zu taumeln beginnt und wieder in die Ausgangslage a zurückkehrt.

Nach F. Kuypers gibt es keine anschauliche und auch keine in Worten faßbare Erklärung für das Verhalten des Kreisels. Der Grund liegt tief in den Bewegungsgleichungen verborgen. Sie sind trotz des einfachen Aufbaus des Kreisels außerordentlich kompliziert und können nur numerisch gelöst werden.

Da die potentielle Energie bei der Aufrichtung größer wird, muß die kinetische Energie (unabhängig von den Reibungsverlusten) kleiner werden:

Ekin,b »  ½ I3 w b2 < Ekin,a »  ½ I3 w a2.

Folglich muß auch der Drehimpuls, der während der ganzen Bewegung seine nahezu vertikale Richtung nicht wesentlich ändert, kleiner werden:

Lb »  Iw b < La »  Iw a.

Daher ist ein vertikales Drehmoment erforderlich. Es kann nur durch horizontale Kräfte aufgebracht werden. Die einzige Kraft, die der über den Boden rutschende Kreisel erfährt, ist die Reibungskraft. Wir stellen also fest: Ohne Reibungskraft ist eine Aufrichtung nicht möglich. Wenn der Kreisel auf einer völlig glatten Oberfläche reibungsfrei rutscht, erfolgt keine Aufrichtung.

 

Das gekochte Ei

 

Dreht man ein liegendes, gekochtes Ei schnell genug um seine vertikale Achse, so stellt es sich trotz der Schwerkraft auf die Spitze. Das Ei zeigt die gleiche verblüffende Bewegung wie der Stehaufkreisel: Bei hinreichend großer Winkelgeschwindigkeit ist die Rotation a instabil und die Rotation b stabil. Auch hier spielt die Reibung eine entscheidende Rolle. Mit einem rohen Ei funktioniert dieser Versuch nicht! Das rohe Ei weist aufgrund seines flüssigen Inneren andere Rotationseigenschaften auf - es ist kein starrer Körper.

 

III.6 Das Levitron©

 

Das Levitron besteht aus einem Magneten als Kreisel und einer Bodenplatte, die einen Ringmagneten enthält. Auf einer über der Bodenplatte liegenden Scheibe wird der Kreisel angetrieben. Die Scheibe wird angehoben, bis schließlich der Kreisel bei einer bestimmten Höhe von der Scheibe abhebt und über der Platte schwebt. Hier verbleibt er minutenlang, stabilisiert durch seinen raumfesten Drehimpuls L und einen kleinen weiteren Magneten (im Mittelpunkt des Ringmagneten) im Potentialtopf des Magnetfeldes des Ringmagneten.

Ebenso kann der Kreisel im effektiven Potential von Gravitation und Magnetfeld Präzessionsbewegungen ausführen- stabilisiert durch die Kreiselwirkung.

(W Prä < Eigenrotation w ).

Das Betreiben des Levitrons erfordert einige Übung, da sich aufgrund minimalster Temperaturschwankungen die magnetischen Kräfte und der Auftrieb des Kreisels derart ändern, daß dieser nicht in die schwebende Position gebracht werden kann.

Ist der Kreisel zu leicht, so hüpft er aus dem Potentialtopf heraus, ist er zu schwer, so fällt wieder er auf die Scheibe hinunter. 1/10 g - Massenscheiben, die auf den Kreisel gelegt werden, sorgen für Ausgleich.

III.7 Der Handtrainer

 

Unter dem Namen "Handtrainer" ist in Spielzeugläden das in Bild III.9 abgebildete Gerät erhältlich. Es besteht im Wesentlichen aus einem Schwungrad in einer Hohlkugel. Die Hohlkugel hat an einem Pol eine kreisrunde Öffnung (in Bild III.9.a unten), durch die das Schwungrad um seine Achse in Rotation versetzt werden kann. Ebenso kann der Schwungkörper per Hand um die Vertikale (gedachte Verbindungslinie zwischen den Polen) gedreht werden (roter Pfeil), da die Achse im Innern der Kugel entlang des Äquators frei beweglich ist: Die Achse läuft auf einer Schiene - einer Materialaussparung - entlang dem Äquator. Gegen ein Verkanten und wahrscheinlich zur Vergrößerung der Reibung wird die Achse zusätzlich von einem Ring (gelb) gehalten. Achse und Schwungrad sind fest verbunden.

 

Versetzt man das Schwungrad in Eigenrotation um seine Achse, so kann man diese Eigenrotation durch geschicktes Bewegen der Hohlkugel enorm beschleunigen.

 

Der Schwungkörper rotiere mit der Winkelgeschwindigkeit w (grüner Pfeil). Dreht man nun die blaue Hohlkugel in der durch den schwarzen Pfeil angedeuteten Richtung, so dreht sich aufgrund der Kreiselwirkung in Bild III a, der linke Teil der Achse in Richtung Betrachter. Diese resultierende Drehrichtung ist in Bild III.9 b durch den roten Pfeil angedeutet. Die Drehachse des Schwungkörpers richtet sich nach dem Rotationssinn der hinzukommenden Drehung aus.

Nach einer Drehung der Achse um 2p dreht man den Handtrainer in umgekehrter Richtung (entgegengesetzt des schwarzen Pfeils) und die Präzessionsbewegung (roter Pfeil) wird fortgesetzt. Fährt man derart fort, so dreht sich die Achse des rotierenden Schwungkörpers innerhalb der Äquatorebene (roter Pfeil).

Hierbei erhöht sich langsam die Eigendrehung w , was an der Reibung zwischen Achse und Hohlkugel (incl. Ring) liegen muß.

Wenn der Schwungkörper in hohe Rotation versetzt ist, dann präzessiert er aufgrund der Reibung an der Hohlkugel weiter, weshalb eine überraschend starke Kraft zu spüren ist.

Durch einen kurzen Ruck kann die Richtung der Präzessionsbewegung umgedreht werden.