I.4 Präzession des schweren symmetrischen Kreisels

I.4.1 Präzession und Kreiselwirkung

 

Ergreifen Sie das Vorderrad Ihres Fahrrades und betrachten Sie die Fahrradfelge in Bild 4.1a (vgl. Heimversuch I): Halten Sie die Felge mit der linken Hand am Punkt A und mit der rechten am Punkt B fest. Wenn Sie nun, während Sie den Punkt A fixiert halten, den Punkt B mit der Kraft F senkrecht nach unten drücken, so weicht das rotierende Rad rechtwinklig zu Ihrer Kraft aus. Dies erklärt sich folgendermaßen: Das von Ihnen aufgewandte Drehmoment M = r ´  F (mit r = AB) steht senkrecht auf der Achse und der Kraft F. Nun ist die zeitliche Änderung des Drehimpulses L das Drehmoment M, folglich bewegt sich B in Richtung M = dL/dt.

 

Wirkt eine äußere Kraft F auf den Kreisel, so ist der Drehimpuls L nicht konstant.

 

Unter dem Einfluß äußerer Kräfte bewegt sich der Kreisel derart, daß die zeitliche Änderung des Drehimpulsvektors nach Richtung und Größe gleich dem Moment der äußeren Kräfte in bezug auf den Stützpunkt des Kreisels ist.

Wenn Sie nun ein Ende der Achse im Raum fixieren (vgl. Bild b) und wenn der Drehimpuls genügend groß ist, die Felge also schnell genug rotiert, so resultiert aus dem ständigen senkrechten Ausweichen zur wirkenden Gravitationskraft eine Kreisbewegung: die Präzession ## "Präzession" von "praecedere" (lat.) = das Vorangehen. ##

(Bild 4.1 b).

 

Die im vorherigen Kapitel benutzen Kreiselmodelle sind nun derart konstruiert, daß die auf den Kreisel wirkende Gravitationskraft leicht berechnet werden kann. Während bei der Untersuchung der Nutation der Fixpunkt gleichzeitig der Schwerpunkt war, befestigt man nun eine Zusatzmasse m im Abstand a = |a| auf der Figurenachse. Der Schwerpunkt wird somit aus dem Fixpunkt verlagert und es wirkt das Drehmoment M = a ´  mg auf den Kreisel (Bild 4.2). (Bild 4.2 Courtesy of PASCO scientific, all rights reserved.)

Versetzen wir nun den Kreisel in Rotation um seine Figurenachse. Nehmen wir an, der Drehimpuls L liege in der Richtung der Figurenachse und der Kreisel rotiere mit der Winkelgeschwindigkeit w z um diese Achse und es gelte: L = Iw z.

Das von der Zusatzmasse m im Abstand a vom Unterstützungspunkt erzeugte Drehmoment ist dann gleich der zeitlichen Änderung des Drehimpulses ## Die hier geschilderten Ausführungen sind eine Näherung für Kreisel mit großem Eigenimpuls Lz und sollen als Einstiegshilfe dienen: Siehe "Exakte Berechnung der Präzession Seite 36" sowie "Überlagerung von Präzession und Nutation ab Seite 38". ## :

 

(4.1) M = a ´ mg =¹ 0.

 

Die Änderung des Drehimpulses dL hat die Richtung von M und steht senkrecht auf der von der Figurenachse und g aufgespannten Ebene (Bild 4.3). Der Drehimpuls L in Richtung der Figurenachse bleibt dem Betrag nach konstant und ändert seine Richtung derart, daß die Spitze des Drehimpulsvektors einen Kreis mit der Winkelgeschwindigkeit W Prä = df /dt durchläuft, wobei dL/dt = rdf /dt und Lsinq ist. Dabei bezeichnet q den Winkel zwischen g und der z-Achse. Damit erhält man aus (4.1):

 

M = mga sinq = = W Prä L sinq

 

und für W Prä

(4.2) mga = Iz W Prä w z bzw. .

Diese Beziehung gilt exakt nur für den horizontal rotierenden Kreisel (q  =  p /2, sinq  = 1) oder näherungsweise für rasch rotierende, symmetrische Kreisel.

 

Unter dem Einfluß eines Drehmoments M rotiert jeder Punkt der Figurenachse mit der Winkelgeschwindigkeit W Prä auf einer Kreisbahn senkrecht zu g. Die Figurenachse insgesamt läuft auf dem Mantel eines Kegels mit dem Öffnungswinkel q und der Spitze im Fixpunkt. Die Präzession eines Kreisels kann völlig analog zur Nutation durch aufeinander abrollende Kreisel dargestellt werden (vgl. Bild 3.5 Kap. Nutation) - W Prä muß unbedingt vertikal liegen, da W Prä || g ist.

 

 

 

Die Kreiselwirkung ?? Nach Klein/Sommerfeld, 1910 auch Deviationswiderstand. ?? besteht also darin, daß die Figurenachse sich mit der Achse der hinzukommenden Drehung in gleichsinnigen Parallelismus zu setzen strebt, derart, daß der Drehsinn der Eigenrotation w z mit demjenigen der hinzukommenden Drehung übereinstimmen würde. Die Größe des Bestrebens wird durch das äußere Moment M im Gleichgewicht gehalten.

 

 Bild 4.6: Mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus: Klein/Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Bd. 1,© 1923 B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig.

 

 

I.4.2 zur vektoriellen Addition von Drehimpulsen

 

Bei dem in Bild 4.2 dargestellten Gyroskop besteht die Möglichkeit, eine weitere Kreiselscheibe auf der Figurenachse zu montieren. Diese zweite Kreiselscheibe hat das gleiche Trägheitsmoment Iz’ = Iz wie die erste. Läßt man beide Scheiben rotieren, so addieren sich selbstverständlich die beiden Drehimpulse zu Lz = LS1 + LS2. Läßt man die Scheiben gegensinnig mit gleicher Winkelgeschwindigkeit w S1 = -w S2 rotieren, so ergibt sich

Lz = Iz w S1 + Iz’ w S2 = LS1 + LS2 =  LS1 - LS1 = 0,

was zur Folge hat, daß der Kreisel sich so verhält, als ob die Scheiben nicht rotierten. D. h. bei Führung mit der Hand weicht er nicht rechtwinklig aus und beim Anhängen einer Masse klappt die beschwerte Seite einfach nach unten.

 

I.4.3 Kreiselbewegung mit F = ma ?? Nach French, 1995. ??

 

Obwohl die durchgehende Verwendung von Winkelgrößen den fruchtbarsten Zugang zu den Kreiselphänomena darstellt, würde man manchmal gerne sehen, wie sich solche Bewegungen auf die Basis des Newtonschen Grundgesetzes zurückführen lassen.

Die Diskussion wird qualitativ gehalten, weil sie nicht ganz richtig ist.

Stellen Sie sich einen Kreisel mit vier gleichen Massen m vor, die symmetrisch im Abstand r von einer Achse befestigt sind. Der Massenmittelpunkt des Kreisels liegt in einer Entfernung l vom Aufhängepunkt (Bild 4.7).

Betrachten Sie die Situation, wenn sich eine der Massen (Nr. 1) am höchsten Punkt kurzzeitig horizontal bewegt. Der Punkt C hat wegen der Präzession die Bahngeschwindigkeit V (= W Prä l), und jede Masse weist eine Geschwindigkeit v (=w  r) relativ zu C auf. Die Masse Nr. 1 hat damit zum betrachteten Zeitpunkt eine Geschwindigkeit von v1 (=v - V) rückwärts in bezug auf die Präzessionsrichtung, und Masse Nr. 3 hat zum selben Zeitpunkt eine Geschwindigkeit von v3 (= v + V) vorwärts (wir nehmen v > V an). Während der darauffolgenden kurzen Zeitspanne d t dreht sich die Rotationsachse des Kreisels wegen der Präzessionsbewegung um den Winkel W Prä d t und die Richtungen von v1 und v3 verändern sind in der in Bild 4.7 dargestellten Weise. Physikalisch bedeutet das, daß die Masse 1 von der Präzessionsachse weg radial nach außen beschleunigt wird und die Masse 3 in Richtung Präzessionsachse nach innen. Die Kräfte, die diese zusätzlichen Beschleunigungen hervorrufen, müssen von den Speichen kommen. Wenn wir die Situation von der Seite betrachten (senkrecht zur Kreiselachse), sehen wir, daß die Speichen ein resultierendes Drehmoment in Uhrzeigerrichtung um C ausüben müssen. Die Massen 3 und 4 erfordern keine Kräfte und Drehmomente, weil ihre momentanen Geschwindigkeiten zu diesem Zeitpunkt nicht geändert werden.

 

A. French führt diese Diskussion weiter und gelangt über die Radialbeschleunigung der Massen

a1 = W Prä v1  = W Prä (v - W Prä l)  = W Prä v - W Prä2 l,

a2 = -W Prä v3  = -W Prä (v + W Prä l) =-W Prä v - W Prä2 l

und über Coriolis- und Zentrifugalkraft auf:

F1 = 2 m W Prä v - m W Prä2 l und

F3 = -l m W Prä v- m W Prä2 l,

welche als die Kräfte zu erkennen sind, die zum Ausgleich der kombinierten Wirkung von Coriolis- und Zentrifugalkraft aufgebracht werden müssen, bei einem Teilchen, das sich mit der Geschwindigkeit v horizontal in einem Bezugssystem bewegt, das mit der Winkelgeschwindigkeit W um eine senkrechte Achse rotiert.

Das resultierende Drehmoment von F1 und F2 ergibt sich damit zu

Mc = 4 m W Prä v r = 4 m r2 w W Prä.

Wir wissen jedoch, daß I = 4 m r2 das Trägheitsmoment des gesamten Systems aus vier Massen in Bezug auf die Rotationsachse ist und erhalten M = I w  W Prä.

 

 

 

 

 

 

I.4.5 Exakte Berechnung der nutationsfreien Präzession ?? Nach French, 1995. ??

 

Für Gl. (4.2) nehmen wir an, daß der Drehimpuls des Kreisels in der Figurenachse bleibt. Er setzt sich jedoch aus dem Drehimpuls um die Figurenachse und dem durch die Präzession gegebenen Drehimpuls zusammen. Ein beliebiger Kreiselpunkt besitzt die Winkelgeschwindigkeit

 

(4.3) w = W + w z.

 

Die xz-Ebene des körperfesten Koordinatensystems wählen wir wieder so, daß die y-Komponente des Drehimpulses verschwindet. Dann ist

Ly = Iyw y = 0 und

 

L = Ix w x + Iz w z.

 

Aufgrund der Präzessionsbewegung des Gesamtsystems

mit der Winkelgeschwindigkeit W gilt für die Drehimpulsänderung

 

(4.4) = W ´ L = Ix W ´ w x + IzW ´ w z .

 

Aus Bild 4.8 entnimmt man ï Ix W ´ w x ï  = Ix W w x cosq

und ï Iz W ´ w z ï  = Iz W w z sinq .

 

Wegen dL/dt ^ W ist dL/dt ein Vektor in der Horizontalen mit dem Betrag

 

(4.5) = -Ix W w x cosq + Iz W w z sinq .

 

Wegen w x = W sinq folgt

 

(4.6) = - Ix W 2 sinq cosq +IzW w zsinq = mga sinq  

und abweichend von Gl. (4.2)

 

(4.7) mga= Izw zW - Ixcosq W 2

 

oder

(4.8) mga = Izw zW (1 - ).

 

Bei horizontaler Figurenachse (cosq = 0) geht Gl. (4.8) in Gl. (4.2) über. Das gilt auch für rasch rotierende Kreisel Izw z > > IzW .

 

Das in Gleichung (4.6) gefundene Zusatzglied ?? Klein/Sommerfeld, Bd. 4, 1910. ??

-Ix sinq cosq W 2 ist übrigens aus der Theorie des einfachen sphärischen Pendels bekannt, es ist dort die als Zentrifugalkraft bezeichnete Wirkung. Verschwindet nämlich der Eigenimpuls des Kreisels (Lz = w = 0), so schwingt der Kreisel wie ein sphärisches Pendel (vgl. Bild 4.6 b) und Kap I.5.2) mit dem Trägheitsmoment Ix. Wir können uns dieses realisiert denken durch ein Fadenpendel von der Länge l und der Masse m, so daß ml2 = Ix. Hier ist nun die horizontal wirkende Zentrifugalkraft Z = ml sinq  W 2 und deren Moment um die y-Achse Isinq  cosq W 2. Auch das negative Vorzeichen des Zusatzgliedes stimmt mit der Betrachtung überein, da das Moment der Zentrifugalkraft das Pendel von der Vertikalen zu entfernen strebt, also den umgekehrten Sinn hat wie das zweite Glied in (4.6).