Dr. Hans H. Paehler

Richter am Amtsgericht Bonn

 

Zur Zulässigkeit des Sterbenlassens.

 

Veröffentlicht in BtPrax 2000, 21

Seit der Entscheidung des OLG Ffm vom 15.7.1998 (BtPrax 98,186) ist die alte Frage neu aufgeworfen, wie lange einem todgeweihten Menschen geholfen werden muß und welche Maßstäbe zu gelten haben. Das OLG hat über die Hilfe beim Sterben hinaus auch die Hilfe zum Sterben für rechtlich zulässig erklärt, aber zur Voraussetzung gemacht, daß der Vormundschaftsrichter im Rahmen eines Betreuungsverfahrens in analoger Anwendung von

§ 1904 BGB festgestellt hat, daß der irreversibel hirngeschädigte Patient mutmaßlich damit einverstanden gewesen ist, seine Versorgung (z.B.über eine PEG-Magensonde) abzubrechen. Im entschiedenen Fall ging es um eine 85-jährige Frau, bei der ein ausgedehnter Hirninfarkt zu einem vollständigen Verlust der Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit geführt hatte. Sie lag etwa fünf Monate im Koma. Ein Oberschenkel war wegen Gewebsnekrose amputiert worden.

Das OLG nahm auf eine Entscheidung des BGH in Strafsachen (NJW 95,204) Bezug, in der dem Sohn und dem Arzt einer Betroffenen rechtswidriges Verhalten vorgeworfen worden war, weil sie die Sondenernährung der hirngeschädigten, zwei Jahre nicht ansprechbaren Betroffenen eingestellt hatten. Eine Rechtfertigung sei durch Einholen einer Genehmigung nach § 1904 BGB analog möglich gewesen, aber unterblieben. Weil die Angeklagten dies aber schuldlos übersehen hätten, sei ihnen ein Verbotsirrtum zuzubilligen. Sie wurden freigesprochen.

Inzwischen dürfte geklärt sein, daß eine analoge Anwendung von § 1904 BGB auf lebensbeendende Maßnahmen nicht möglich ist, weil die Bestimmung gerade für das Gegenteil, nämlich lebenserhaltende Maßnahmen konzipiert ist und weil eine Lücke im Gesetz, die der Gesetzgeber nicht gesehen hätte, nicht besteht. Er hat sie gesehen und bewußt offen gelassen (LG München BtPrax 99,115 m.w. Nachw.; Stalinski BtPrax 99,86,87; s. auch Assion BtPrax 98,162,163). Hinzu kommt  – worauf Stalinski (a.a.O. ) mit Recht hinweist – daß nach § 1904 BGB eine eigene Entscheidung des Betreuers genehmigt wird, das Sterbenlassen aber nur die Achtung vor der Entscheidung des Betroffenen bedeutet.

Fällt damit die Entscheidung des OLG Ffm in sich zusammen?

Gewiß, das gewünschte gerichtliche Verfahren, das zur Sicherung des mutmaßlichen Willens des Betroffenen und zum weitestmöglichen Ausschluß von Mißbrauch verhelfen sollte, entfällt. Die Frage aber bleibt, ob das Rechtsbedürfnis, dem Patientenwillen beim Sterbenlassen mehr Raum zu geben, nicht doch richtig empfunden worden ist. Der Vormundschaftsgerichtstag e.V. hat diese Frage in einer ersten Stellungnahme (BtPrax 98,161) scharf verneint, die Entscheidung des OLG Ffm als verfassungswidrig bezeichnet und ausgeführt, der Gesetzgeber habe den Lebensschutz über das Selbstbestimmungsrecht des Getöteten gesetzt, indem er in § 216 StGB die Tötung auf Verlangen eigens für strafbar erklärt hat.

Die genannte Stellungnahme geht dabei davon aus, daß der Ernährungsabbruch aktive Sterbehilfe und damit Tötung sei. Das OLG Ffm spricht dagegen davon, „daß beim Behandlungsabbruch ärztliches Untätigbleiben mit tödlichem Ausgang vorliegt“. Bei natürlicher Betrachtungsweise wird man wohl auch das Nicht-Weiter-Behandeln oder das Nicht- Mehr-Ernähren als ein Unterlassen bezeichnen. Doch haben die Juristen mit ihrer Lehre von der Garantenstellung (auch Tatherrschaft) eine Gleichstellung von Tun und Lassen bewirkt, die zu einer Vermischung unterschiedlicher Tatbestände führt.

 

 

 

 

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Zugrunde liegt das Bedürfnis, das Ideal absoluten Lebensschutzes hochzuhalten. Das beinhaltet den Glauben, daß dies (jedenfalls annähernd) möglich ist und daß der Staat in Verantwortung für jeden seiner Bürger und um seiner selbst willen ein geschlossenes Denksystem anbieten müsse und auch verbindlich für alle könne. Dieser aus dem vorigen Jahrhundert überkommene statische Ansatz erfährt im Zeitalter der Dynamik, der Individualität und der Psychologie seine Hinterfragung dahin, ob nicht hinter all dem ideellen Streben ein gut Teil Angst steckt, den Tod als Realität und das Sterben als unausweichlich auszuhalten. Hinzu kommt die Angst, verantwortlich einbezogen zu werden, und die Ohnmacht, nichts wirklich ändern zu können.

Die staatliche Bedrohung durch eine unüberschaubare juristische Begriffswelt führt bei vielen Ärzten dazu, von der Grenze einer möglichen straf- oder zivilrechtlichen Haftung einen möglichst weiten Abstand zu halten, was wiederum einen intensivmedizinischen Standard produziert, der vom Normalbürger als Horror empfunden wird. Die zunehmende Verbreitung von Patientenverfügungen spricht ein beredtes Zeugnis.

Wer mit der Realität leben will, muß sich eingestehen, daß bei aller technischen Perfek-tionierung der Umgang mit dem Leben anderer auch bei uns relativ ist. Hilfe ist abhängig von der Bereitschaft des Helfers, von der Möglichkeit persönlichen Einsatzes, von der Verfügbarkeit technischer und finanzieller Mittel. All dies läßt sich mit Ge- und Verboten oder Dienstanweisungen nur höchst unvollkommen regeln. Die Ehrfurcht vor dem Menschen, insbesondere in seiner Endzeit setzt für eine angemessene Behandlung eine Atmosphäre des Vertrauens und der Zuwendung voraus, mit der juristische Bedrohung nicht vereinbar ist. Daraus ergibt sich die Forderung nach einem Ermessensspielraum, der auch unterschiedliche Wertungen zuläßt. Klar ist, daß Maßstab immer nur der Wille des Betroffenen sein kann, an dessen Auffindung allerdings nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. hierzu Dröge BtPrax 98, 199).

Der Wille des auf sein irdisches Ende zugehenden Menschen gerät zunehmend auch in den Blick der Juristen. Bei der Abgrenzung von strafloser Beihilfe zum Selbstmord und Tötung auf Verlangen hat der BGH mit Hilfe der Tatherrschaftslehre in vielen Fällen immer wieder letzteres bejaht. Dagegen habe ich mich schon 1964 (MDR 64, 647) gewandt. Immerhin zeigt die von Stalinski (BtPrax 99,43 ff) zitierte Rechtsprechung des BGH in letzter Zeit eine bemerkenswert liberalere Linie.

Einem Hausarzt, der seine Patientin bewußtlos antriftt, ihre Selbstvergiftung erkennt und sie wunschgemäß nicht in ein Krankenhaus bringt, bescheinigt der BGH 1984 zwar noch eine Garantenpflicht zur Hilfe, meint aber, die ärztliche Gewissensentscheidung könne hier nicht von Rechts wegen als unvertretbar angesehen werden, so daß die Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung an der fehlenden Zumutbarkeit scheitere.

1991 betont der BGH, die Ausschöpfung intensivmedizinischer Technologie sei sogar rechtswidrig, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen widerspreche.

1996 führt der BGH dann aus: „Denn die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen... ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht unter schwersten, insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen“.

 

 

 

 

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Damit ergibt sich, daß eine Garantenpflicht gar nicht entstehen kann, wenn eine sachgerechtes Abwägen aller Umstände ein Tätigwerden verbietet, denn sie ist von ihrem Konzept her nur ein Hilfskonstrukt, um unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden. Ist klar, daß auch bei lebensbedrohlich erkrankten oder geschwächten Patienten die Entscheidung über eine Fortsetzung der Behandlung allein Sache des Patienten ist, so können Betreuer und Verwandte allenfalls  Helfer bei der Auffindung des Patientenwillens sein und nicht aus eigener Macht entscheiden. In diesem Sinne kann allerdings auch ihre Unterschrift gefragt sein, um den Arzt zu entlasten. Er trägt mit der Feststellung einer irreversibel auf den Tod zulaufenden Entwicklung die Hauptlast der Verantwortung.

Aus dem Begriff der Hilfe ergibt sich, daß sie nicht um ihrer selbst willen, sondern nur gewährt werden soll, wenn sie für den Patienten eine Verbesserung seines Zustands bedeutet. Hilfe, die versucht, diesem Ziel zu dienen, aber ins Leere läuft, kann zurückgenommen werden, weil sie sich als sinnlos erweist. Dann ist der Zustand erreicht, der bestehen würde, wenn keine Aktivität entfaltet worden wäre. Das Beenden von Reanimationsbemühungen, das Abschalten der Beatmung u.ä. stellt sich deshalb nicht als aktive Tötungshandlung dar, sondern als Rücknahme einer von Anfang an oder inzwischen sinnlosen Maßnahme. Sie aufrecht zu erhalten, könnte nur verlangen, wer eine Pflicht zum Tätigwerden zu konstruieren

vermöchte. Und eben das gelingt zunehmend weniger bzw. nicht.

Damit ist nicht der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ das Wort geredet, sondern lediglich der Versuch unternommen, einem in die Gegenrichtung schwingenden Pendel Einhalt zu gebieten. Die Gefahr des Mißbrauchs wird überschätzt. Wo der Richter dem Arzt Vertrauen entgegenbringt, berät dieser sich  - wie die Praxis zeigt -  in schwierigen Fällen gern mit jenem. Und es kann erfahrbar werden, daß rechtliche Aspekte belanglos werden in einem Bereich, in dem es um Vertrauen, Geborgenheit, Demut, Loslassen und ein friedliches Ende geht.

 

Ergebnis

1)      Beim Sterbenlassen kommt es für den Juristen darauf an, eine natürliche Sicht der Dinge zurück zu gewinnen, was den Unterschied zwischen Tun und Lassen angeht.

2)      Der verantwortungsbewußte Umgang mit dem Tod spielt sich grundsätzlich in einem Bereich ab, der nicht justitiabel ist.

3)      Ein notwendiger Rechtsschutz kann sich auf Mißbrauch beschränken. Hier wird jeder Betreuungsrichter auch schnell handeln.

4)      Maßgeblich für ein unanfechtbares Sterbenlassen ist (abgesehen von den durch Aufwand gesetzten Grenzen – es kann nicht jeder in eine Mayo-Klinik geflogen werden) allein der Wille des Betroffenen, der umso klarer sein muß, je früher der Rückzug der Helfer beginnen soll.

5)      Bei irreversiblem Bewußtseinsverlust gibt es für eine Beweislastregel in dubio pro vita keinen Grund, da grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, daß jemand körperlich weiter funktionieren will, ohne je wieder geistig am Leben Anteil zu haben. Wenn jemand es anders will, ist ihm zuzumuten, es rechtzeitig klar zu stellen.

 

 

 

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Zusatz: Ende 2001 haben sich das OLG Karlsruhe und das OLG Frankfurt/Main (BtPrax 2002 S. 79 und 84) nochmals für das Erfordernis einer gerichtlichen Entscheidung bei Ernährungsabbruch ausgesprochen und dabei viele Argumente behandelt. Es bleibt jedoch die Grundsatzfrage: lieber mehr Kontrolle oder mehr Selbstverantwortung? Entscheiden Sie selbst!

 

Im Sinne der vom Verfasser vertretenen Auffassung hat sich jetzt deutlich auch die Bundesregierung geäußert ( Deutscher Bundestag Drucksache 14/8822 vom 18.4.2002,          S. 32-35 ). Die Bundesregierung sieht ausdrücklich kein Bedürfnis dafür, den § 1904 BGB in Fällen der passiven und indirekten Sterbehilfe entsprechend anzuwenden.

 „Die Vormundschaftsgerichte haben nicht in analoger Anwendung des § 1904 BGB über die Genehmigung einer Einwilligung in einen Behandlungsabbruch zu entscheiden. In methodischer Hinsicht fehlt es bereits an der zur Analogie erforderlichen Regelungslücke. Der Gesetzgeber hat den Behandlungsabbruch als Unterlassen einer ärztlichen Maßnahme angesehen, der nach dem Wortlaut der Norm nicht der Zustimmung des Vormundschaftsgerichts bedarf.“

Im Klartext heißt das: Wer für die Beendigung einer PEG-Ernährung keine gerichtliche Genehmigung einholt, kann deswegen nicht bestraft werden.