Das Ende der Schuld.

Von Dr. Hans H. Paehler  (Deutsche Richterzeitung 1986 Seite 377)

Horst-Eberhard Richter hat in „DIE ZEIT“ vom 30.5.1986 zu dem Thema geschrieben “Der Arzt und das Umdenken zum Frieden“. Im Hinblick auf die Vermeidung eines Atomkrieges zitiert er Albert Schweitzer: „Ermöglicht wird die Abschaffung der Atomwaffen erst dadurch, dass in den Völkern eine öffentliche Meinung entsteht, die sie verlangt und garantiert. Die dazu erforderliche Gesinnung kann nur durch die Ehrfurcht vor dem Leben geschaffen werden.“

Auch in die Diskussion der (Berufs-)Richter ist der Atomkrieg inzwischen eingedrungen. Ich nenne als Stichworte nur: Raketenstationierung, Demonstrationen, Urteile hierzu, politische Richter und deren Maßregelung. Viele meinen, der Richter solle sich lieber auf sein überkommenes Arbeitsfeld beschränken: den täglichen Kleinkrieg und die Möglichkeiten der Justiz, Frieden zu schaffen.

Ob Krieg im Großen oder im Kleinen, wirklicher Friede ist nicht denkbar ohne „Ehrfurcht vor dem Leben“, Akzeptieren des anderen als Menschen oder – wie es in der leider schon abgegriffenen juristischen Formulierung heißt – Achtung vor der Würde des Menschen.

 

Da bemüht man sich mit einem, der nach eigenen Angaben „Mist gebaut“ hat, in eine menschliche Auseinandersetzung einzutreten, Vertrauen zu wecken und den Glauben ein besseres Zusammenleben, und am Ende stehen mehr oder weniger feinsinnige Erörterungen zu Schuld und Strafe – denn Strafe muss sein!

Die Atmosphäre von Verständnis und Vertrauen schwindet plötzlich, der Täter fühlt sich hinters Licht geführt. Er sagt: „Ich habe dem Richter doch erklärt, wie alles gekommen ist. Ich bin auch bereit, umzulernen und Beschränkungen (auch Freiheitsentzug) auf mich zu nehmen. Warum muss ich verurteilt werden? Wozu lange Ausführungen zu Schuld und Strafe, wenn angeblich alles auf eine gemeinsame Zukunft ankommen soll?“ Spätestens im Strafvollzug fühlt der Täter sich dann vollends verraten und verkauft und sinnt auf Rache.

 

Schon bei der Schuldfeststellung zeigt sich die Schwäche des Systems. Das Grausen kann einen packen, wenn der wegen Tötung Angeklagte unter Tränen erklärt: „Ich habe es nicht gewollt!“ Die Feststellung von Vorsatz hindert es nicht. Der Richter fragt den Gerichts-psychiater, ob er seelische Störungen beim Täter festgestellt hat. Und der Gerichtspsychiater müsste es schließlich wissen, wer sonst? Der Gerichtspsychiater konstatiert keine Besonder-heiten und gibt die Frage nach der Schuld an den Richter zurück; denn der hat darüber zu entscheiden, wer sonst? Der Richter aber nimmt Zuflucht zu dem beim Examen abgelegten Glaubensbekenntnis, dass nämlich Schuld immer dann anzunehmen sei, wenn ein Tatbestand erfüllt ist und Rechtfertigungsgründe nicht vorliegen. Dass dieser Glaube falsch sein könnte, ist sozusagen mit der Examensurkunde ausgeschlossen.

 

Schuld ist Vorwerfbarkeit, heißt es. In der veröffentlichten Rechtsprechung kann man nachlesen, wie viele Vorwürfe als Fehlwürfe gelten. Dem nüchternen Betrachter drängt sich der Eindruck auf: Schuld ist mehr in den Köpfen der Urteilenden als in den Seelen der Verurteilten zu finden. Jedenfalls ist Schuld immer abhängig von der Gemütsverfassung des Urteilenden: bei Empörung ist sie groß, bei Verständnis klein. Maßstäbe gibt es nicht. Eine Ausbildung zu Schuld und Strafe findet nicht statt. Das „Wissen“ der Experten ist gleich Null. Woran sollte es auch anknüpfen? Es gibt keine Messlatte für Schuld und kein Lackmuspapier für ihren Nachweis. Sie ist „eine staatsnotwendige Fiktion“, wie Richard Schmid sagt. Aber wie notwendig ist sie wirklich?

Nach Schmid (weiland Präsident eines OLG) ist die Entscheidung über Schuld und Strafe eine Entscheidung über Wert und Unwert eines Menschen – eine Entscheidung, die Schmid zu Recht für vermessen erklärt (s.Freudenfeld <Hrsg.>, Schuld und Sühne, Beck 1960, S. 64).

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Schließlich geht das Grundgesetz davon aus, dass alle Menschen in ihrem Menschsein gleich sind. Verschieden sind sie in ihren Fähigkeiten. Schmid hat das Dilemma für sich mit dem Satz gelöst, dass zu einem guten Richter ein schlechtes Gewissen gehöre. Wer aber will mich zwingen, einen Menschen als fiktiven Unmenschen zu sehen und zu behandeln? Gewiss, wir haben derzeit noch ein Schuldstrafrecht. Aber wie lange noch? Schon unsere Enkel werden möglicherweise so fassungslos auf unser Schuldstrafrecht schauen wie wir auf die Verhältnisse in Auschwitz (wer das für übertrieben hält mag nachlesen, wie sich die Rechtsprechung zur Rechtsbeugung im Dritten Reich gewandelt hat. Tempora mutantur …). Ich werde später nicht sagen können, ich hätte von nichts gewusst.

 

Zufrieden ist mit unserem Strafrecht niemand. Im Vollzug heißt es: wir vollstrecken nur, was die Richter für schuldangemessen gehalten haben. Die Richter sagen: wir ordnen nur an, was das Gesetz uns befiehlt. Der Gesetzgeber: wir schreiben nur fest, was das Volk will. Das Volk: wir wollen nur, was die Experten (siehe oben) für richtig halten. Das ist das Elend von Tradition und Gewaltenteilung: niemand ist mehr für das Ganze verantwortlich. Niemand hat den Mut, den Teufelskreis zu durchbrechen.

 

Mit der Einrede der Unzuständigkeit retten wir uns über die Runden und fügen hinzu: sind wir für das Strafrecht unserer Väter verantwortlich? Andere (Länder) machen es auch nicht besser. Wegen Überarbeitung sind wir nicht mehr zum Nachdenken über das Eigentliche gekommen. Im Strafprozess werden solche Einwände als unbeachtlich vom Tisch gefegt. Wir berufen uns trotzdem drauf. Quousque tandem?

 

Das Schuldstrafrecht hat nach dem derzeitigen Stand unseres Wissens vom Menschen ausgedient. Es bröckelt an allen Ecken. Als Dammbruch wurde der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 19.5.1981 (NStZ 1981, 344) gewertet. Der BGH hat die „absolute Strafe“ (Lebenslänglich für jeden Mord) aufgehoben und für Ausnahmefälle die Möglichkeit eröffnet, auf zeitige Freiheitsstrafe zu erkennen, wenn die lebenslange Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig erscheint. Seither hat der BGH alle Hände voll zu tun, um diese Rechtssprechung auf Extremfälle zu beschränken. Zu spät, denn bei einem Arrangement mit der Staatsanwaltschaft kommen viele Fälle gar nicht mehr zum BGH. Bemerkenswert ist zweierlei. Der BGH hat, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen, einen eindeutigen Gesetzes-befehl außer Kraft gesetzt. Und die exzessive Ausnutzung des neuen Ventils lässt Rückschlüsse auf das von Schmid apostrophierte schlechte Gewissen vieler guter Richter zu, das auch sonst (z.B. bei der Erwartung, der Verurteilte werde sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und deshalb keine Straftaten mehr begehen, oder bei Freisprüchen infolge gehäufter Anwendung von „in dubio pro reo“, so dass von dem Fall nichts mehr übrig bleibt) den Verdacht der Rechtsbeugung eher auslöst als den Glauben an das Bemühen, den Täter mit seiner Realität zu konfrontieren. Man redet über eine „weiche Welle“.

 

Ein weiteres Beispiel abbröckelnden „Schuld“-Bewusstseins ist der Wegfall der Strafschärfung bei Rückfalltaten. § 48 StGB ist am 1.5.1986 in aller Stille von uns gegangen. Offenbar hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Vorstrafen eben nicht den gewünschten Warneffekt haben und zwangsläufig ansteigende Schuld signalisieren. Ab 1.5.1986 wird auch die Ersatzfreiheitsstrafe ihren Charakter als blinder Schnappmechanismus verlieren. Der Verurteilte soll die Geldstrafe durch „freie Arbeit“ erledigen und nicht mehr in der Zelle abbüßen. Der Trend zu Verantwortlichkeit ohne Schuld wird schließlich durch die Halter-haftung bei Parkverstößen belegt, die der Bundestag am 6.6.1986 beschlossen hat.

 

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Die schärfste Attacke gegen das Schuldstrafrecht sehe ich in der Entscheidung des OLG Schleswig vom 10.12.1984 (NStZ 1985,475). Das OLG hat die Verfassungsmäßigkeit der Jugendstrafe in Frage gestellt. An der Feststellung vieler Fachleute war nämlich nicht mehr vorbeizukommen: die Jugendstrafe erzieht nicht zum rechtschaffenen Lebenswandel, sondern sie verfestigt und produziert verstärkt abweichendes Verhalten der ihr Unterworfenen und verstößt damit gegen die Menschenwürde. Das OLG meint, diese Bedenken – die von immer mehr Fachleuten vorgetragen werden – seien „sehr ernst zu nehmen“. Es hat letztlich dann doch die Verfassungsmäßigkeit der Jugendstrafe bejaht und sich zur Begründung an eine Entscheidung des BGH angehängt, in der es heißt, es sei nicht Sache der Gerichte, „einem eindeutigen Gesetzesbefehl deshalb die Gefolgschaft zu versagen, weil die Exekutive nicht die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereithält“. Das OLG hat diesen Faden aber verdünnt und für nicht tragfähig erklärt für den Fall, dass Sinn und Zweck der Norm (Besserung des Gefangenen) auf Dauer nicht in die Tat umgesetzt werden kann.

 

Die Erkenntnis, dass Strafe nicht besser, sondern vielmehr lebensuntauglicher macht und damit kriminelle Gefährdung fördert, ist so alt, dass sie beim Fachmann nur Gähnen verursacht. Doch jetzt wird es brisant. Die Erkenntnis ist bis die Rechtsanwendung vorgedrungen, und Systemtreue um jeden Preis ist nicht mehr Sache der Gerichte. Noch steht die Bastion Schuldstrafrecht ungebrochen. Noch tragen die ideologischen Fundamente. Seit biblischen Zeiten wird auf Erden gestraft, und erst am jüngsten Tag soll es enden mit Pauken und Trompeten. Wer kann es bei solchen Perspektiven wagen, Strafe schlicht für Unsinn zu erklären? Blasphemisches erscheint am Horizont: Schuld ohne Strafe? Mensch ohne Schuld? Ist Christus gar umsonst gestorben? Nun, wenn er Erlösung im Sinn gehabt hat, dann bedeutet das ja wohl in erster Linie Befreiung aus Beschränkungen, Verklemmungen und Verkennungen und nicht Auf-die Finger-Klopfen. Mit der Realität konfrontieren, den Spiegel vorhalten; zeigen, dass es so nicht geht, das braucht der Übeltäter. Und Hilfe für sein Selbstbewusstsein, um das hässliche Spiegelbild auszuhalten. Wer sich noch ein Gespür für die eigenen Schwachstellen bewahrt hat, mag sich einmal fragen, was er empfindet und wie er reagieren wird, wenn ein Mächtiger ihm nicht nur den Finger in die Wund legt, sondern auch noch ein Strafübel festsetzt und eiskalt kalkuliert. Wie soll da einer bei sich Reue und Umkehrbereitschaft aufkeimen lassen, sein Selbstwertgefühl auf das eines „besseren“ Menschen anreichern?

 

Der Staat hat die Macht, Gewalttäter einzusperren. Das ist eine nahezu uneingeschränkt anerkannte Tatsache. Ob staatliche Gewalt besser ist als die Gewalt des Straftäters (oder bloß Vergeltung – die Edelform von Rache), ist keine Sache intelligenter Selbstrechtfertigung. Die „bessere“ Gewalt muss sich vielmehr in ihrer humanisierenden Wirkung erweisen. Wenn wir die Erfolge unseres Systems betrachten, haben wir wenig Anlass, uns über das Strafrecht im Mittelalter oder im Dritten Reich erhaben zu fühlen.

 

Wie kommt es, dass wir, die wir uns im Besitz kultureller Werte sonnen, psychologische Mechanismen kennen, Lebenserfahrung und wirtschaftlichen Weitblick haben, andere so wenig aus dem engen Zirkel unvernünftiger Selbstsucht zu befreien vermögen?

Natürlich kann es daran liegen, dass die anderen uneinsichtig, interesselos, empfindungsarm und in ihren Strukturen bereits verkrustet sind. Es kann aber auch daran liegen, dass unsere Überlegenheit gar nicht so groß ist, wie wir glauben, und dass auch wir mit falschen Karten spielen, ohne es zugeben zu können.

Es heißt, jeder werde nur nach seiner Einsichtsfähigkeit bestraft. Aber bei Terroristen, Fanatikern und Überzeugungstätern gerät die These doch zu blankem Hohn.

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Wirtschaftsstraftätern kann man in den wenigsten Fällen klar machen, dass das, was sie für kaufmännisches Risiko gehalten haben, von anderen als Betrug eingestuft wird. Die Grenze zwischen legalem und illegalem Egoismus wird alle paar Wochen gesetzlich neu definiert. Wie glaubwürdig ist denn ein Schuldvorwurf in der „Spendenaffäre“ für ein Verhalten, das vorher „allgemein anerkannt“ war? Der Rechtsstaat sollte den Heiligenschein ablegen, bevor man ihn damit lächerlich macht.

 

Schuldgefühle und Schuldvorwürfe produzieren Minderwertigkeitskomplexe, saugen die Kraft aus dem Leben. Was wir brauchen, ist, dass jeder seine speziellen Beschränktheiten realistisch wahrnimmt und ohne Scheu fremde Hilfe annimmt, wo es nötig ist. Dann ist Veränderung möglich. Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erste Weg zur Besserung, nicht Fremderkenntnis. Und nur wer Selbsterkenntnis übt, kann sie anderen ermöglichen. Datenschutz als Lendenschurz verschiebt die Problematik und verdeckt die Realität. Auf die nackten Tatsachen kommt es an. Wie man damit umgeht, ist die viel wichtigere Frage. Aber dafür gibt es noch keinen Bundesbeauftragten.

 

Es scheint, der Glaube an das Böse im Menschen ist stärker als der Glaube an die Kraft des Guten. Deshalb müssen die Menschen mit Ge- und Verboten gegängelt und mit Strafdrohungen in Schach gehalten werden. Die Angst regiert, bei den Herrschenden wie bei den Beherrschten. Das ist eine Weltsicht, die eines Staates unwürdig ist, der den freien und souveränen Bürger als Zielvorstellung vor Augen hat.

Doch der Bürger mausert sich. Wen die Normunterworfenheit noch nicht in die Depressivität getrieben hat, nimmt sein Glück selbst in die Hand. Nach der neusten Umfrage steht die eigene Lebensfreude an erster Stelle, wo zuvor ein scheinheiliger Altruismus vorgezeigt wurde. Vormünder sind nicht mehr gefragt. Das mag zunächst erschrecken, aber es zeigt auch, dass der Bürger aus dem Stadium kindlichen Behütetseins heraus will. Wer erwachsene Menschen will, muss die Pubertät akzeptieren. Und sich nicht strikt an Gesetze halten, kann – wie BGH NStZ 1981, 344 zeigt – durchaus humanen Fortschritt bedeuten.

 

Auch die Theologen vermögen ihre Schuldthesen immer weniger zu verkaufen. Sie haben die „Frohe Botschaft“ in einen Moralkodex umfunktioniert und die Kirchen weitgehend leer gepredigt. Von juristischen „Fachleuten“ ist wenig Aufklärung zu erwarten; denn sie sind innerhalb des Systems groß geworden und verdanken ihre Stellung seiner Anerkennung. Man muss schon lange suchen, um einen Satz zu finden wie diesen: „Das überlieferte, auf ethische Verfehlung des freien Menschen abstellende Schuldstrafrecht ist bereits am Ende“ (Schreiber, Göttinger rechtswiss. Studien Bd. III 1980 S. 281, 290; s. auch Walter Kargl, Kritik des Schuldprinzips, Campus Verlag 1982, der dem Schuldstrafrecht nach den Regeln herkömmlicher Wissenschaft den Boden entzieht).

 

Natürlich gibt es Willensfreiheit und Verantwortung. Aber man bekommt sie nicht zum 14. oder 18. oder 21. Geburtstag geschenkt. Sie muss schrittweise erarbeitet werden und ist täglich gefährdet, zusammen zu brechen. Sie hängt ab vom Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Und ohne Selbstwertgefühl gibt es bekanntlich kein Fremdwertgefühl. Jeder weiß aus seinem Bekanntenkreis, dass die größten Kritiker und die ehrgeizigsten Verfechter hoher Ideale in erster Linie eigene Schwäche zu verdecken trachten und echten Entscheidungen möglichst aus dem Wege gehen. Der Mangel eigener Überzeugung, die mangelnde Bereitschaft, für etwas sein Hand ins Feuer zu legen, verbirgt sich häufig hinter einer Scheindemut, die auf die Formel zu bringen ist: „Über den Sinn von Schuld und Strafe sollen Berufenere nachdenken!“

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 Auch die großen Philosophen haben nur mit Wasser gekocht und waren Kinder ihrer Zeit. Wer sich nicht gescheut hat, mit „einfachen Leuten“ von Mensch zu Mensch zu reden, wird wissen, dass die Wahrheit gar nicht so abstrakt ist, wie kluge Bücher es scheinen lassen.

 

Natürlich kann der Mensch zwischen zwei Möglichkeiten wählen, z.B. zwischen einem vordergründigen Vorteil und einem, der sich erst später einstellt oder dessen Eintritt ungewiss ist, der also Triebverzicht erfordert, aber auf  Dauer Wohlbefinden verschafft. Das ist schon eine komplizierte Sache, und wer mit Kindern zu tun hat, weiß, wie schwer es ist, da Entscheidungshilfen zu geben. Wer seine Kinder nur auf Normen einschwört, hat von vornherein verloren, er erzwingt kurzfristig Wohlverhalten, aber bekommt es mit Sicherheit später mit Zinsen und Zinseszinsen heimgezahlt. Orientierung verschafft, wer Lebensfreude ausstrahlt.

 

Entscheidungsfähigkeit kann man nicht aus Büchern gewinnen, nicht aus mahnenden Worten von Vätern und Pfarrern, sondern nur aus dem Leben. Und das sieht bei vielen Menschen wenig rosig aus. Es soll nicht in Frage gestellt werden: Moralisches oder soziales Verhalten kann man lernen. Aber für alles Lernen gilt: es ist nutzlos, wenn es nicht mit Liebe zur Sache oder in liebvoller Atmosphäre geschieht. Wer Deutschlands Schulen kennt und wer Deutschlands Familien kennt, weiß wie es darum steht. Das Erwachsenwerden, das Freiwerden für eine unabhängige Entscheidung ist ein lebenslanger Prozess, der sich in Hunderttausenden kleiner Schritte vollzieht oder auch nicht. Wer meint, darauf keine Rücksicht nehmen zu können, weil er im Augenblick gerade auf grob sozialfeindliches Verhalten reagieren muss, darf sich nicht wundern, wenn er zu falschen Ergebnissen kommt. Der Rückschluss von sich auf andere („Unter den Voraussetzungen des Täters hätte ich anders gehandelt!“) ist mit ziemlicher Sicherheit falsch. Das jedenfalls glaube ich als Richter gelernt zu haben.

 

Verbrechen ist Kommunikationsmangel. Da hat einer etwas nicht recht mit bekommen, an anderer Stelle hat er sich nicht rechtzeitig verständlich machen können. Er zieht öfter den Kürzeren. Das findet er ungerecht. Irgendwann hält er sich schadlos. Und das verkraftet er ohne größere Gewissensbisse, weil er mit dem Anwachsen seiner Probleme das Gefühl für den Nachbarn verloren hat. Wer seine Mitmenschen liebt hat keine Mühe, sie in Ruhe zu lassen. Und wer sie nicht in Frieden lassen kann, hat nicht gelernt, Verständnis für sie zu entwickeln. Auf dieser Erkenntnis fußt z.B. in der Jugendvollzugsanstalt Hameln ein Seminar, in dem versucht wird, jugendlichen Sexualstraftätern weibliches Selbstwertgefühl und partnerschaftliche Beziehung verständlich zu machen und erstrebenswert erscheinen zu lassen. Solcher Trainingsprogramme auch für andere gebiete bedürfte es, um sozialen Umgang zu lernen. Das hat nichts mit Heilen statt Strafen zu tun. Therapie oder Pädagogik, die von oben nach unten verabfolgt wird, ist genau so hochnäsig und ineffizient wie Strafen.

 

Es gibt eine Form menschlicher Hilfe, die von Defiziten bei allen Menschen ausgeht, die deshalb auf gleicher Ebene stattfindet und die dem anderen auch die Freiheit lässt, nicht anders werden zu wollen. Auch von Behinderten kann man lernen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Wie Behinderungen entstehen oder jedenfalls gefördert werden, ist nachzulesen z.B. in dem Buch Jürgen Bartsch – Nachruf auf eine „Bestie“(Torso-Verlag 1984) oder bei Alice Miller Am Anfang war Erziehung (Suhrkamp 1980). Alice Miller versucht dabei, ohne in Sozialromantik zu verfallen („Alles verstehen heißt alles verzeihen!“) Adolf Hitler zu verstehen.

 

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Der Verzicht auf Selbstrechtfertigung durch Schuldkonstruktionen ist nicht eine in der Theorie geborene Idee, sondern eine individualpsychologische Erfahrung. Es gibt kaum eine gescheiterte menschliche Beziehung, in der nicht nachweisbar wäre, dass der eine dem anderen zu beweisen versucht hat, seine moralische Position sei die bessere und der andere deshalb minderwertig. Ich kenne niemanden, dem es gelungen wäre, mit solcher Kriegsspieltechnik das große Glück aufzubauen. Aber ich kenne einige Leute, die irgendwann geschossen oder gestochen haben.

 

Der Mensch ist ein Naturprodukt. Ein Packesel ist nur bis zu einem bestimmten Punkt belastbar, und ein Huhn fliegt nicht in den Süden. Der „erwachsene“ Mensch ist eine Illusion. Das ist die Ist-Realität, die ständig von einer Soll-Realität überlagert wird. Einem Kind sieht man manches nach, aber manch einer bleibt sein Leben lang ein Kindskopf.

 

Fast bei jedem Straftäter ist – wenn nicht schon mangelnde Intelligenz – mangelndes Einfühlungsvermögen nachweisbar. Es gibt eben nicht nur optische, sondern auch seelische Sehfehler. Nicht ohne Grund sagt man, es habe jemand eine Dummheit begangen oder in Verblendung gehandelt. Den ebenso durch Verständnislosigkeit getrübten Blick aber hat, wer einen anderen Menschen als „böse“ zu erkennen glaubt. Schuld ist (Selbst-)Verantwortlich-keit von außen durch die Brille der Lieblosigkeit gesehen. An diesem Punkt liegt das Geheimnis von Erlösung begründet. Die meisten aber bleiben lieber bei dem alttestamentarischen Auge um Auge, Zahn um Zahn, einer erkennbar frühmenschlichen Entwicklungsstufe.

 

Das ist bitter für den, der bisher auf die klare Trennung von Gut und Böse gebaut hat. Sein Wertsystem ist in Gefahr. Gibt es nicht mehr „Falsch und Richtig“? Richard von Weizsäcker hat im März 1986 im Hinblick auf die Entwicklungshilfe ausgeführt, was auch in diesem Zusammenhang gilt: „Jedes Wertsystem, das menschliche Würde ermöglicht, ist „richtig“, ist Leben spendend.“

 

Das Oberlandesgericht Schleswig sieht die Menschenwürde im Strafvollzug gefährdet durch „Zurückversetzung, Erniedrigung, Abwertung, Abschreibung“. Von all dem findet aber bereits auch etwas statt, wo ein Mensch verurteilt wird. Und es findet statt in dem zugrunde liegenden Schuldstrafrecht, für das jeder von uns verantwortlich ist. Wir haben uns also gegenseitig nichts vorzuwerfen, sondern wir können gemeinsam angehen, wofür die Zeit reif ist: ein Reaktionsmittelsystem, das auf die Bedürfnisse seiner Probanden abgestimmt ist und dann auch mehr als bisher dem Schutz der Bürger dienen kann.

 

Bei Diskussionen über den Sinn der Strafe bleibt als einziges Argument meist übrig: „Was sollen wir denn sonst machen?“ Nun, es würde doch genügen, zu vereinbaren: Wir (der Staat) reagieren auf bestimmtes sozialwidriges Verhalten mit Freiheitsbeschränkungen (Durchsetzung von Schadensersatz, Sozialdienst, halboffene oder geschlossene Unter-bringung). Ein denkbares Modell könnte so aussehen: die Richter stellen die Täterschaft fest, der Vollzug bestimmt variabel die Reaktionsmittel, die Richter entscheiden bei Streit. Jeder Täter erhält eine (möglichst ehrenamtliche) Bezugsperson zugeordnet. Je mehr die Bürger merken, wie sehr die Straftäter ihr Problem sind, umso eher werden sie auch imstande sein, das Übel an der Wurzel zu kurieren, nämlich bevor einer zum Straftäter wird.

 

 

 

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Das ist keine sentimentale Sozialromantik; denn,  wenn man die Schwächen des Täters im Fach Sozialer Umgang zum Maßstab nimmt, wird das Modell durchaus zu härteren Eingriffen führen als bisher. Aber es lässt dem Täter auch eher die Chance, sich im Rahmen seiner (beschränkten) Möglichkeiten für soziales Verhalten zu entscheiden. Und es erspart den Richtern manche Wischi-Waschi-Entscheidung (wenn z.B. bei einer Bewährungsstrafe der Rückfall eigentlich schon feststeht). Die Richter beklagen zunehmende Belastung durch Anwälte, die mit Hilfe des Verfahrensrechts Prozesse zu verschleppen oder gar zu torpedieren versuchen bis hin zur fanatischen Identifikation mit dem Angeklagten. Perfekte Kriegsspieltechnik nimmt den Raum ein, der eigentlich der Wiederherstellung des Rechtsfriedens dienen sollte. Ein Grund ist sicherlich: Strafe diskriminiert, und gegen Diskriminierung lassen sich leicht Leidenschaften mobilisieren. Eine liebevoll sachliche Behandlung des Rechtsbrechers wird zwangsläufig auch eine Beruhigung des Verfahrens mit sich bringen und die Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege wieder verdeutlichen. 

 

Wenn die Auseinandersetzung mit dem in Sozialkontakt schwachen Mitbürger eine gemeinsame Aufgabe ist und nicht mehr Schuldstrafexperten gefragt sind, wird auch dem Einsatz des Normalbürgers (der als Schöffe zwischen sämtlichen Stühlen sitzt) größere Bedeutung zukommen. Im Vorfeld staatlicher Maßnahmen und im Freiheitsentzug kann eine „Entdramatisierung und Entkriminalisierung von Konflikten“ stattfinden, wie jetzt bereits in Modellversuchen praktiziert wird (vgl. Kube, DRiZ 1986, 121).

 

1974 hat Arno Plack ein dickes Buch geschrieben: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts. Leider ist es zu einem Zeitpunkt heraus gekommen, als die Teilnehmer an der Diskussion um die große Strafrechtsreform gerade erschöpft in die Sessel zurückgesunken sind. Lesenswert ist es trotzdem. Nun macht die Globalisierung und die Angst vor international arbeitenden Tätern jede Hoffnung auf baldige Änderung unseres überalterten Rechtssystems zunichte. Aber irgendwann müssen wir aus der Begriffswelt der Kinder herauswachsen, die mit Schuldvorwürfen Selbstbehauptung lernen wollen. Der Erwachsene kann die Verschiedenartigkeit der Menschen und ihrer Bedürfnisse akzeptieren und vor sich selbst dafür einstehen, als unerträglich empfundenes Verhalten ohne Vorwurf abzuwehren. Beide Teile in Übereinstimmung zu bringen erfordert dann aber auch die Auseinandersetzung mit dem Täter, um das abgerissene Verständnis für einander als einzig tragfähige Grundlage menschlicher Gemeinschaft wieder zu gewinnen.

Sokrates sagt: niemand tut das Böse um des Bösen willen, sondern weil er es irgendwie für gut hält. Mag jeder mit seinen Schuldgefühlen machen, was er will. Im Hinblick auf andere brauchen wir Schuld nicht, um reagieren zu können. Im Verwaltungsrecht wird ein Störer ohne Schuld in Anspruch genommen. Im Vormundschaftsrecht werden harte Entscheidungen getroffen mit schlichter Abwägung verschiedener Interessen gegeneinander. Verantwortlichkeit ohne Schuldvorwurf heißt das Stichwort eines neuen juristischen Zeitalters. Wer sich zutraut, mit anderen Menschen verantwortlich umzugehen, braucht Schuld nicht mehr zur Beruhigung seines schlechten Gewissens. Die Schuld hat ihre Schuldigkeit getan. Die Schuld kann gehen.

Die Ehrfurcht vor dem Leben ist es, die nach Albert Schweitzer den Atomkrieg vermeiden helfen kann. Die Achtung vor der Würde des Menschen ist es, die uns den Bürgerkrieg ersparen kann. Der erste Schritt wäre, auf Schuldzuweisungen zu verzichten. Friede setzt Einsicht auf beiden Seiten voraus. Die andere Seite kann es nur von uns lernen.

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