Der Fall Martha H.

Skandal oder normal?

 

von Dr. Hans H. Paehler

Richter am Amtsgericht

 

Fallschilderungen sollen Situationen verdeutlichen, die immer wieder vorkommen. Sie sollen symptomatische Abläufe plausibel machen. Sie sollen Schlussfolgerungen zulassen und, wenn es denn gelingt, für die Zukunft besseres Handeln ermöglichen. Das erfordert allerdings nicht nur einen geschärften kritischen Blick, sondern auch viel Gutwilligkeit; denn wer nichts lernen will, kann sich leicht damit herausreden, hier handle es sich um einen extremen Ausnahmefall.

Der Fall Martha H. ist ein Normalfall, schwierig nur im Hinblick auf die emotionale Belastung, die er für alle Beteiligten mit sich gebracht hat. Das ist nicht selten. Schlimm ist es immer, wenn sich der Staat mit den persönlichen Dingen seiner Bürger befassen muss. Über Martha H. hat der stern vom 25.11.2001 kritisch berichtet. Dort liest man: „Martha H.,98, wurde von einer Sozialarbeiterin als unzurechnungsfähig abgestempelt – bis eine Fachärztin das Gegenteil feststellte.“ Das klingt, als sei hier eine Betreuungsanordnung gründlich misslungen. Wenn der zuständige Richter sich hierzu äußert, mag der Eindruck entstehen, hier wolle sich jemand verteidigen. Und wenn schon. Ein guter Vormundschaftsrichter hat gelernt, sich kommentarlos beschimpfen zu lassen und sachliche wie unsachliche Kritik zu ertragen.  Nützlich dürfte es aber doch sein, den Fall aus der Sicht eines intimen Kenners zu erleben. Es könnte helfen bei der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit, wenn denn daran Interesse besteht.

 

In der Deutschen Richterzeitung von 1987 Seite 54 habe ich vorgeschlagen, die alte Entmündigung, die als rechtliche Enthauptung verstanden wurde, abzuschaffen und dem Bedürftigen einen Rechtsbetreuer als Helfer zur Seite zu stellen. Dem hat der Gesetzgeber entsprochen und sogar vorgeschrieben, dass durch eine Betreuungsanordnung die Frage der Geschäftsfähigkeit nicht berührt wird. Das war im Hinblick auf unser autoritär-hierarchisch  konzipiertes Rechtssystem ein mutiger Schritt. Er erweist sich in der täglichen Praxis als ernorm entlastend, wenn man die Betreuung als von Respekt getragene Hilfe anbieten will.

Wer davon redet, jemand stehe unter Betreuung, hat den 1992 eingetretenen Rechtswandel nicht verstanden. Wer – wie der stern – weiter von Vormundschaft und Mündel redet, verbreitet nicht nur eine falsche Botschaft, sondern er stabilisiert gerade Verhältnisse, die er anprangern will. Tief nämlich sitzt die grausame Vergangenheit im allgemeinen Bewusstsein verankert: die Vorstellung, entrechtet und  seiner gesellschaftlichen Stellung beraubt zu sein. Und dies war letztlich auch der Grund dafür, dass die Betreuung bei Martha H. aufgehoben worden ist. Die sympathische alte Dame hat außergewöhnlich unter der Empfindung einer Abwertung gelitten, einer Empfindung, der das neue Betreuungsrecht gerade den Boden entziehen wollte. Aber wie soll ein neues Recht bei alten Leuten zu einer veränderten Lebenseinstellung führen, besonders dann, wenn man immer wieder liest und hört, welche Missstände es bei der Betreuung in der Praxis gibt.

 

 

 

 

 

 

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Es gibt sie natürlich. Natürlich gibt es Betreuer, die abzocken, sich nicht einsetzen, eine rohe Gesinnung an den Tag legen. Alarmierend wäre doch nur, wenn ihr Anteil über dem der normalen Kriminalitätsrate läge. Das mag man befürchten, Zahlen gibt es nicht. Der für Betreuung verantwortliche Richter kann nur Erfahrungen sammeln und daraus Konsequenzen ziehen. An täglichen Klagerufen fehlt es nicht. Oft meldet sich der pure Unverstand.

 

Betreuung wird von Menschen gemacht, und die entsprechen nun einmal nicht idealen Qualitätsansprüchen, sie leisten per definitionem grundsätzlich nur Durchschnitt: auch die Sachverständigen, die Richter, die Betreuer. Eine Verbesserung des Standards kann kein Gesetz erzwingen, kein Druck von oben, keine Skandal-Berichterstattung. Die Besserung, die sich jeder wünscht, hat einen Namen: mehr persönliches Engagement vor Ort. Und das erzielt nur, wer zu begeistern versteht. Also: nicht Empörung ist gefragt, sondern gemeinsame Suche nach mehr Mitmenschlichkeit. Nicht mehr Recht ist das Ziel, sondern Verhältnisse, in denen rechtliche Überlegungen als weitgehend überflüssig empfunden werden. Gerade unter demen-ten alten Menschen findet man häufig freundliche Gesprächspartner, die sich in ihrer Familie geborgen fühlen und die keine Bedenken haben, ob ihr Vermögen auch richtig verwaltet wird, die nicht registrieren, geschlossen untergebracht oder gar fixiert zu sein. Ihnen das nötige Problembewusstsein zu vermitteln, erscheint dem Betreuungsrichter nicht selten absurd.

 

Martha H. war anders. Sie hatte ihre Befürchtungen, z.B. in das Heim nahe ihrer Wohnung zu gehen, obwohl ihr Hausarzt das für die 94-jährige als dringend notwendig ansah. Martha H. fürchtete ein Zusammentreffen im Heim mit ihrem Schwager, mit dem sie verfeindet war. Als sie nach ihrem Umzug merkte, dass der Schwager sein Zimmer nicht mehr verließ, genoss sie die Vorzüge des Heimaufenthalts und hat das auch mehrfach (wie protokolliert ist) gesagt. Wer meint sie sei „gegen ihren Willen ins Heim verfrachtet“  worden, wird nicht umhin kommen, auch die andere Seite zu sehen.

 

Das eben ist die Aufgabe des Richters: beide Seiten zu sehen und abzuwägen. Mögen die Rechtseiferer die Fahne der Freiheit schwenken, Sache des Richters ist es, bei der Lösung konkreter Probleme zu helfen. Und Probleme gab es, weil Martha H. Geld hatte. Eine Bank konsultiert einen Rechtsanwalt, ob die Anregung einer Betreuung möglich sei. Die Altenhilfe hat den Verdacht, Martha H. werde betrogen. Der Richter besucht Martha H. und findet eine resolute alte Dame vor, die das Gespräch selbst bestimmt. Als alleinstehende Lehrerin hat sie gelernt, wie man sich Respekt verschafft. Das war auch nötig; denn Martha H. hat auch eine weiche Seite, die bei einem längeren Gespräch deutlich wird. Prädisponierte Gesprächs-partner kann das veranlassen, die alte Dame auszunutzen und eigene Probleme auszuleben. Jedenfalls gibt es bald Helfer aller Art. Martha H. lässt sich auf plausible Argumentationen ein und dabei überreden. So stimmt sie auch der Betreuungsanordnung zu.

 

 Zunächst aber ist ein Gutachten einzuholen. Es soll dem Richter Material liefern für die Beantwortung der Frage, ob eine psychische Krankheit vorliegt oder eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung. Dabei geht es nicht bloß um einen Intelligenztest, sondern wesentlicher um die Frage, ob ein Betroffener noch sachgerechte Entscheidungen treffen kann oder ob er durch seelische Mechanismen daran gehindert ist. Oft sagt jemand, der hierzu befragt wird: „Ich bin doch nicht bekloppt!“ Das stimmt dann häufig auch, führt aber trotzdem nicht an einer Betreuungsanordnung vorbei, weil Veränderungen der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit nicht wahrgenommen werden, so dass Entscheidungen nicht, zu spät oder kontraproduktiv getroffen werden. Auf die Feststellung der seelischen Behinderung gibt es kein Monopol der Psychiater, obwohl viele das glauben.

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Sie ist vielmehr ein Problem der lebenspraktischen Einschätzung, der Lebenserfahrung und der möglichst emotionsfreien Beurteilung. Stellt ein Sachverständiger keine seelische Behinderung fest, so ist damit nicht gesagt, dass auch keine seelische Behinderung vorliegt.

 

 Da Martha H. mit der Betreuung einverstanden ist, kann ihr der Test ihrer geistigen und psychischen Leistungsfähigkeit durch einen Psychiater erspart bleiben. Es geht mehr um soziale Fragen: ist eine Versorgung in der Wohnung noch zu organisieren, was kann Martha H. noch selber, gibt es Verwandte. So wird eine in solchen Gutachten erfahrene Sozialarbeiterin beauftragt, langjährige Mitarbeiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes der Stadt, die sich für die medizinischen Fragen der Stellungnahme eines Arztes bedient. Sie meint im Ergebnis, eine umfassende Betreuung ist nötig. Das denkt auch der Richter und richtet die amtliche Betreuung ein. Eine Person ihres Vertrauens kann Martha H. nicht benennen, so dass ein Berufsbetreuer eingesetzt wird.

 

Martha H. bekommt den Beschluss und ist empört. Sie sei nicht in der Lage, ihre Angelegen-heiten zu regeln? So steht es nun einmal im Gesetz. Jedenfalls: Beschwerde durch einen Rechtsanwalt. Der aber nimmt die Beschwerde zurück (warum wohl?) und bittet nur um einen anderen Betreuer, einen alten Bekannten von Martha H. mit bestem Leumund. Wunschgemäß wird er bestellt. Ihm gelingt es, Martha H. ins Heim zu „loben“ (wie sie später sagt).

 

Bei zwei Besuchen des Richters im Heim bestreitet sie nicht, dass der Umzug nötig war und die Versorgung jetzt gut ist. Dass sie „eigentlich“ lieber in ihrer Wohnung geblieben wäre, muss man ihr zugestehen.

 

Unbedingt will Martha H. jetzt einer jungen Familie F. helfen. Sie gibt ein Darlehen von    300 000 DM zinslos auf 10 Jahre. Da eine Betreuung keine Entmündigung ist, kann sie das. Das Vermögen von Martha beläuft sich auf über eine Million DM, und ihre Rente ist ansehnlich. Frau F. besorgt sich von Martha H. nun noch eine notarielle Vollmacht und betreibt wütend, aber erfolglos die Aufhebung der Betreuung. Eine Betreuung hält jetzt auch der Notar für notwendig. Der befreundete Betreuer gerät in Misskredit und muss sein Amt an einen Rechtsanwalt abgeben. Dieser ist schließlich der einzige von allen Verfahrens-beteiligten, den Martha H. heute noch als korrekt und sehr angenehm bezeichnet, für mich ein Zeichen dafür, dass es nicht am Betreuer gelegen hat, wenn Martha H. mit dem Rechtsbegriff Betreuung nicht zurecht gekommen ist.

 

Aber sie leidet und klagt. Die Einschränkungen des Alters machen ihr zu schaffen. Es muss doch einen Verantwortlichen geben! Und Martha H. findet Menschen, die ihr zuhören und ihr bei der Suche helfen. Dreimal kommt der Richter, mehrfach telefoniert sie mit ihm. Immer wieder gelingt es, Martha H. in ausgeglichene Stimmung zu versetzen. Immer wieder fällt sie in Verzweiflung. Sie habe ja nicht mehr lange zu leben und wolle nicht auf ihren Grabstein schreiben müssen: „Hier ruht eine Entrechtete!“  Der Betreuer hält eine Aufhebung der Betreuung für vertretbar. Martha H. sei gut versorgt und werde im Heim bleiben. Sie soll nicht unnötig leiden. Der Richter holt ein Gutachten ein. Im Mini-Mental-Test erreicht Martha H. 29 von 30 möglichen Punkten. Das ist für eine 96-jährige Frau erstaunlich. Die Betreuung wird aufgehoben.

 

 

 

 

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2 ½  Jahre später besucht der Richter Martha H. noch einmal. Sie ist erfreut, hat sich eigens ein neues Kleid angezogen, klagt aber, alle hätten sie betrogen: der zweite Betreuer, Frau F., der Notar. Wie viel Geld sie noch hat, weiß sie nicht. Das verwalte ihre „Betreuerin“, die Sozialhelferin werden wolle. Der habe sie eine Vollmacht gegeben. 400 000 DM habe sie einem wohltätigen Verein gespendet. Der Bericht im stern sei zu allgemein, gar nicht auf sie bezogen und zum Teil unzutreffend. Jetzt habe auch das Fernsehen ihren Fall gebracht. Man habe sie vor ihre alte Wohnung gefahren und gefragt, was sie empfinde. Ihre Idee sei das nicht gewesen.

 

Einen Betreuer, der das verhindern konnte, gab es nicht mehr. Wie hätten Sie entschieden? Hier meine Kriterien: Martha H. ist eine intelligente Frau mit weichem Herzen und einer ursprünglich kraftvollen Selbständigkeit. Die Verwaltung einer plötzlichen Erbschaft ist ihre Sache nicht. Wann wird die Großzügigkeit zur Leichtfertigkeit? Wo fehlt der Überblick? Vor der Betreuung war Martha H. körperlich bei schlechter Gesundheit und manchmal verwirrt. Im Heim hat sie sich erholt. Zu ihren Einschränkungen ein ausgeglichenes Verhältnis herzustellen, fällt ihr besonders schwer. Auch ihr erstaunliches Gedächtnis und ihre Erzählkunst ändern nichts an der Tatsache, dass einzelne Erinnerungen objektiv falsch sind und dass sie zu stark emotional gefärbten Werturteilen neigt. Sie wird von den Menschen enttäuscht, weil sie sich vorher selbst getäuscht hat, nicht richtig hingesehen, doziert statt zugehört. Das mindert ihren Wert als Mensch nicht, und sie kann es sogar im lockeren Gespräch einräumen. „Schreiben Sie ruhig, was Sie denken. Meinen Namen können Sie auch nennen!“ Aber die gute Stimmung ist nicht aufrecht zu erhalten bei den Nöten des Alters. Die gebotene Hilfe wird immer wieder als Degradierung empfunden und lautstark beklagt. „Ich bin so unfrei!“

 

Wie soll man da helfen? Martha H. hätte möglicherweise in ihrer Wohnung versorgt werden können, rund um die Uhr. Ein Treppenfahrstuhl hätte gebaut werden können. Das Geld war vorhanden. Aber ohne Betreuer hätte Martha H. es nicht bereit gestellt. Es ging ja noch irgendwie. Der Umzug in ein sehr persönlich eingerichtetes Apartment im Heim war zweifellos die bessere Lösung. Sie will es ja auch. Aber die Spannung zwischen dem Wunsch, „eigentlich“ lieber in der Wohnung zu bleiben und der vernünftigen Entscheidung wird nicht durchgehalten. Jemand musste Verantwortung übernehmen.

 

Und das Geld wird zum Kreuz. „Wenn ich eine nackte Maus wäre, würde sich niemand um mich kümmern“, sagt sie. Aber sie ist keine nackte Maus, ist dem Zugriff der Wohltäter ausgesetzt und nicht gewachsen. Ihr Geld sollte für sie geschützt werden, nicht nur, weil es zum Teil für ihre Pflege benötigt wird, sondern auch um sie vor Ausbeutung und der damit verbundenen Schmach zu bewahren.

 

Nicht die gute Note im Mini-Mental-Status hat Martha H. zur Aufhebung ihrer Betreuung verholfen, sondern die Erkenntnis, dass Martha H. ihre Defizite nicht akzeptieren kann und deshalb echte Hilfe in einem Maße als Leiden empfindet, dass Vermögenseinbußen eher in Kauf zu nehmen sind als ein Ende in subjektivem Elend. Hilfe, die nur noch als Elend empfunden wird, ist keine Hilfe mehr.

 

 

 

 

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Der stern-Artikel, der das subjektive Empfinden von Martha H. zum Titel stilisiert                   ( „Die haben dann keinerlei Rechte mehr“) befriedigt sicherlich das Sensationsbedürfnis vieler Leser. Er ist aber wenig hilfreich für viele alte Menschen, die nun einmal lernen müssen, einem Betreuer zu vertrauen und für die ein Heim unvermeidlich ist. Er ist auch wenig hilfreich für Martha H., die von sich aus zu dem Artikel gesagt hat: „Das war doch alles viel komplizierter!“ Auch eine Betreute hat Anspruch darauf, dass ihre Belange mit ihr besprochen werden, dass ihr ihre Finanzlage verdeutlicht wird. Das hat mit dem „korrekten“ Rechtsanwalt als Betreuer ja auch funktioniert. Dass es mit dem von Martha H. gewünschten Betreuer nicht funktioniert hat, liegt daran, dass der Richter nach dem Gesetz gehalten ist, einen gewünschten Betreuer vorzuziehen.

 

War die Anordnung der Betreuung überflüssig? Entscheiden Sie selbst.

 

Im Juli 2003 ist Martha H. 100 Jahre alt geworden. Der Richter -  inzwischen pensioniert -  hat mit einem Blumenstrauß gratuliert. Martha H. wünscht ihm „noch viele Jahre ohne Bevormundung“.