Das unabweisbare Bedürfnis des Betreuungsrechts

am Lebensende.


von Dr. Hans H. Paehler

Richter am Amtsgericht i. R.


veröffentlicht in BtPrax August 2003 Seite 141


Recht und Gefühl.


Auch für den, der sich um Sachlichkeit bemüht, gilt: Erörterungen um Leben und Tod sind immer stark gefühlsbetont. Das muss man wissen, wenn man sich darauf einlässt.


Das Leben des Menschen endet mit dem Tod.

Diese unbestreitbare Tatsache sorgt immer wieder für Überraschung. Sie löst das Gefühl der Überraschung aus, wenn das abstrakte Wissen um den Tod nicht mit emotionalem Inhalt erfüllt und zu einer realitätsnahen Haltung, zu einer Lebenseinstellung verdichtet wird.

Auch wenn ein anderer Mensch sich langsam auf sein Ende zu bewegt, erfasst man die Situation nicht ohne Feingefühl. Die Kräfte schwinden, die körperlichen Funktionen versagen, die Abwehr lässt nach. Zunehmende Abhängigkeit von anderen wird als Würdeverlust schmerzlich empfunden. Manches kann mit Hilfen überbrückt werden. Welche Hilfe ist sinnvoll, welche ist unerwünscht, welche ist rechtswidrig? Wann ist Schluss?

Da gibt es viel Unsicherheit. Man wünscht sich eine griffige Formel. Wille und Wohl des Patienten sollen im Mittelpunkt stehen.


Nun hat der BGH (Beschluss v. 17.3.2003 – XII ZB 2/03) ein neues Bedürfnis hinzugetragen: das unabweisbare Bedürfnis des Betreuungsrechts. Es soll als Rechtsgrund dienen für den Satz, dass der Betreuer die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts einholen müsse, wenn er eine ärztlich angebotene Maßnahme für seinen Betreuten nicht mehr wahrnehmen will. Was ist das für ein Bedürfnis? Und warum ist es unabweisbar?

Ein Bedürfnis kann eigentlich nur ein Mensch empfinden. Das Betreuungsrecht hat allenfalls einen Regelungsbedarf. Darauf sei nicht beckmessernd verwiesen, sondern zur Beleuchtung der Tatsache, dass im redlichen Bemühen um eine Lösung drängender Fragen gefühls-mäßige Einstellungen mittelbar wirksam werden, die letztlich den praktischen Nutzwert der gefundenen Formel beeinträchtigen. Abstrahieren geht nicht ohne Verdrängen.



Die Erkenntnisse des BGH.


Jedermann wäre froh, wenn es eine akzeptable Formel gäbe, wer was wann darf. Es geht um die Frage, wann bei einem einwilligungsunfähigen Menschen die künstliche Ernährung eingestellt werden darf. Der Meinungsstreit dazu darf als bekannt vorausgesetzt werden. Man wünschte sich, der BGH hätte ihn beendet. Doch die Zufriedenheit bleibt aus.


Immerhin darf Folgendes als geklärt verbucht werden: § 1904 BGB eignet sich nicht als Rechtsgrund für das Zustimmungserfordernis. Der Behandlungsabbruch ist ein Unterlassen, also keine Tötungshandlung. Die Einwilligungsunfähigkeit des Betroffenen ändert an der fortdauernden Maßgeblichkeit des früher erklärten Willens nichts. Die Entscheidung des Betroffenen gegen die Fortführung seiner künstlichen Ernährung ist höchstpersönlicher Natur. Der Betreuer handelt zwar in eigener rechtlicher Verantwortung. Er trifft – wenn er den Eintritt der konkreten Voraussetzungen bejaht – aber keine eigene (Wert)Entscheidung; er setzt vielmehr eine im Voraus getroffene Entscheidung des Betroffenen um.





Es gibt viele Ermessensspielräume, will sagen wenig Entscheidungsraum für den Richter. Der Arzt könne sich auf seine Berufsfreiheit und seine allgemeine Handlungsfreiheit berufen. Das Betreuungsrecht beantworte nicht, welche lebensverlängernden oder –erhaltenden Maßnahmen der Betroffene beanspruchen kann. Was medizinisch indiziert ist, hänge vom konkreten Fall ab. Wird eine Maßnahme von Ärzten nicht angeboten, weil sie von vornherein nicht indiziert, sinnlos geworden oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, so habe der Betreuer keinen Anlass, eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung zu beantragen. Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen lässt Entscheidungen zu, die nicht jeder so getroffen hätte. Der Betreuer darf deshalb nicht die Willensbekundung des Betroffenen „korrigieren“. Lässt sich kein (zumindest mutmaßlicher) Wille des Betroffenen ermitteln, gilt nicht in dubio pro vita. Es „böte sich als Richtschnur möglicherweise ein Verständnis des Wohls des Betroffenen an, das einerseits eine ärztlich für sinnvoll erachtete lebens-erhaltende Behandlung gebietet, andererseits aber nicht jede medizinisch-technisch mögliche Maßnahme verlangt“. Der BGH hält das für objektivierbar. Ist das wirklich justiziabel?



Problemlösungstheorie.


Wenn ein Rechtsproblem gelöst werden soll, setzt das voraus:

  1. Es gibt eine real existierende praktikable Lösung.

  2. Sie ist – zumindest für kluge Köpfe - erkennbar.

  3. Sie wird vom Rechtsstaat (irgendwie) getragen.

  4. Sie ist vermittelbar.


Vor allem gilt für jedes richterliche Handeln: es darf nur entschieden werden , was zwingend entschieden werden muss. In kritischen Diskussionsbereichen gehen Erkenntnis, Motivation, Moral, Machtanspruch und Entscheidungsdruck leider häufig durcheinander. Beispiele:


    1. In der Abtreibungsproblematik ist es nicht notwendig, das ungeborene Kind als Nichtmensch zu erkennen, um eine Güterabwägung zu ermöglichen und bestimmte Sachverhalte von einer Bestrafung auszunehmen. Es genügt eine auf die demokratische Rückendeckung bezogene Entscheidung. Wo keine staatliche Tragfähigkeit existiert, gibt es kein staatliches Handeln.


    1. Der Hirntod, ursprünglich als Endpunkt ärztlichen Bemühens anerkannt, wird nun als Ende des Menschen definiert. Das vermeidet die Angst, bei der Organentnahme auf einen (nicht mehr lebensfähigen, aber insoweit noch) lebenden Menschen zu treffen. Dabei würde genügen, dass der Staat sich als solcher zu Organentnahmen (in durchaus gesetzlich definiertem Rahmen) nicht äußert.

Strafrechtliche Schuld wird als Vorwerfbarkeit definiert und nach dem Vorwurf in der Seele des Täters auf den Monat genau vorgefunden. Dabei würde es genügen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass nach gesellschaftlich gesicherten Maßstäben an ein bestimmtes Täterverhalten konkrete Folgerungen geknüpft werden.



Kritik.


Solche Gesichtspunkte der Selbstbescheidung – sie werden zugegebenermaßen wenig praktiziert – erörtert der BGH nicht. Er schreibt: „Die Fortbildung des Rechts ist eine Pflicht der obersten Gerichtshöfe des Bundes und wird ständig geübt“. Das ist gut so und soll auch so bleiben. Aber es reicht nicht, für die Einführung eines neuen Rechtsinstituts auf eine Gesamtschau des Betreuungsrechts zu verweisen und auf das unabweisbare Bedürfnis, eine Antwort zu finden. Selbst wenn die Gesamtschau nur von höchster Warte aus möglich sein sollte, so bleibt doch Erklärungsbedarf nach Nr.3 und 4 (s.o.).

Der Gesetzgeber habe – so der BGH - keinen Genehmigungsvorbehalt installiert. Die Bundesregierung habe auf Anfrage keinen Handlungsbedarf für eine Änderung gesehen, Gesetzesinitiativen gibt es auch von anderer Seite nicht. In den Ausführungen zur Ablehnung einer analogen Anwendung des § 1904 BGB meint der BGH, es lasse sich bezweifeln, ob die Vorschriften des Betreuungsrechts, in denen einzelne Handlungen des Betreuers einem Genehmigungsvorbehalt unterstellt werden, ein geschlossenes gedankliches System darstellen. Er hält also für möglich, dass die Lücke gewollt und sinnvoll, jedenfalls die Schließung als nicht mehrheitsfähig angesehen worden ist. Der BGH handelt, obwohl er selbst sagt: „Die Diskussion um die Zulässigkeit und die Grenzen der Hilfe im oder auch zum Sterben wird gerade durch das Fehlen verbindlicher oder doch allgemeiner Wertmaßstäbe geprägt“. Welche soll denn der Amtsrichter anwenden?


Der BGH knüpft die Genehmigung des Behandlungsabbruchs daran, dass das Grundleiden des Betroffenen bereits einen irreversibel tödlichen Verlauf genommen hat. Andernfalls seien die Erklärung des Betreuers und auch die Genehmigung des Gerichts rechtswidrig.


Der BGH sieht einen Vorteil seines Angebots darin, dass das Amtsgericht verantwortlich prüfen könne (was machen denn die anderen?), „ob der rechtliche Rahmen für das Verlangen des Beteiligten überhaupt eröffnet ist. Dies wäre immer dann zu verneinen, wenn eine letzte Sicherheit, dass die Krankheit des Betroffenen einen irreversiblen und tödlichen Verlauf angenommen habe, nicht zu gewinnen wäre“.

Andererseits soll die Prüfungszuständigkeit des Vormundschaftsgerichts ihre natürliche Grenze finden, wo der Regelungsbereich des Betreuungsrechts endet. Das bezieht sich auf die Diagnose des Arztes, ob eine lebensverlängernde oder –erhaltende Behandlung medizinisch indiziert ist. Sie solle außen vor bleiben.


Das klingt ganz einfach. Aber:

Jedes Leben nimmt einen irreversibel tödlichen Verlauf. Ab wann hat man ein Grundleiden? Ist es etwas, das den Tod beschleunigt? In welchem Maße? Ist jeder Komapatient erfasst? Oder erst nach vielen Jahren? Was ist mit dem Alzheimerpatienten im letzten Stadium? Wann beginnt dieses? Auch unter Ärzten gibt es keine Einigkeit. Wieso sollen einzelne medizinische Probleme jenseits der natürlichen Grenze des Betreuungsrechts liegen und richterlicher Berücksichtigung nicht zugänglich sein?

So gibt man Steine statt Brot.


Der BGH gibt nicht nur keine Begründung für die Notwendigkeit einer vormundschafts-gerichtlichen Genehmigung, er gibt auch keine allgemeinverständlichen Maßstäbe, an denen sie sich ausrichten könnte, an die Hand.



Die Angst vor dem Missbrauch.


Auf einem Pathologenkongress wurde mitgeteilt, dass ein Drittel der untersuchten Patienten von den behandelnden Ärzten richtig behandelt worden ist. Bei einem weiteren Drittel waren Diagnose und Behandlung falsch, bei einem weiteren Drittel zweifelhaft. Bei Einführung des Betreuungsrechts ging man von sechs Millionen psychisch behinderten und rechtlich hilfsbedürftigen Menschen aus. Bis jetzt gibt es „nur“, manche sagen „schon“ eine Million Betreuungsakten. Ist das ein rechtlich unhaltbarer Zustand, eine schmerzliche Lücke im System?

Nicht bei der Begründung seiner Kompetenz, sondern bei der Begründung einer nach BGH stets notwendigen Betreuerbestellung nennt der BGH sein Motiv. „An die Stelle der Willensbestimmung durch den Betreuer als den gesetzlichen Vertreter träte die Willensbestimmung durch den Arzt oder die Angehörigen, die sich aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht mehr legitimieren würde, unter Umständen mit Eigeninteressen kollidieren könnte und im System des geltenden Rechts einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle von vornherein nicht zugänglich wäre.“


Sie war bisher regelmäßig nicht zugänglich, und sie wird es auch künftig nicht sein, weil – auch nach Vorstellung des BGH - die meisten Fälle ohne Gericht erledigt werden. Welcher Aufwand wäre im Übrigen zu rechtfertigen, um eventuelle Eigeninteressen aufzuspüren?

Das kann nicht das neue Tätigkeitsfeld der Betreuungsrichter sein und würde sie jeden Vertrauensbonus kosten. Wer erlebt hat, wie Ärzte und Angehörige um die richtige Entscheidung ringen, muss sagen, dass Kontrolle nicht immer besser, sondern oft unverhältnismäßig ist. Und die Verhältnismäßigkeit hat schließlich Verfassungsrang.



Die Lösung ist: es gibt keine.


Wann man einen Menschen sterben lassen sollte, kann – im besten Sinne – nur erspürt werden. Für einen genehmigungsfähigen Todeszeitpunkt gibt es keine allgemeingültige Definition, weil es zu viele Unwägbarkeiten gibt, die ihrerseits nicht beeinflussbar sind (Wille des Betroffenen, Erklärung des Vertreters, Erkenntnisfähigkeit und Bereitschaft des Arztes).

Der einzige Leitsatz, der von jedem unterschrieben werden könnte, lautet: „Bei Anhaltspunkten für eine missbräuchliche Ausübung der Betreuung im Hinblick auf Behandlungsabbruch o.ä. hat das Vormundschaftsgericht sofort das Notwendige zu veranlassen.“ Alles andere führt nur zu Unruhe, Streit und Bürokratie. Es verletzt die Würde des Menschen, der in Ruhe sterben will.


Das OLG Frankfurt hat die Genehmigungspflicht in edler Absicht eingeführt. Als Ergebnis wird berichtet, dass die Tochter, die sich offenbar ohne missbräuchliche Absicht in dieses Verfahren begeben hat, als potentielle Mörderin ihrer Mutter beschimpft, seelisch zusammengebrochen ist und sich in psychiatrische Behandlung begeben musste. Die Betroffene hat über den wahrscheinlich von ihr akzeptierten Todeszeitpunkt hinaus leben müssen. Sind solche Opfer als natürliche Folge einer Grundsatzentscheidung hinzunehmen?

Welche Klarheit ist gewonnen?

Die Rechtsordnung will und kann nirgends umfassenden Schutz bieten. Sie lebt von der Freiheit und Verantwortung des mündigen Bürgers. Die wird nicht gestärkt durch möglichst viel staatliche Kontrolle, sondern durch Zurückhaltung. Das kann der Betreuungsrichter bei Haus- und Krankenhausbesuchen jeden Tag hautnah erfahren.

Es lässt sich nicht alles regeln. Dem versucht der BGH dadurch Rechnung zu tragen, dass er das gerichtlich Tätigwerden auf Fälle beschränkt, in denen der Arzt eventuell noch eine Chance für den Betroffenen sieht, der Betreuer aber keine ärztliche Maßnahme mehr will. Solche Fälle hat es auch bisher gegeben. Und sie sind zur Befriedigung der Beteiligten durch ein Gespräch mit dem Richter gelöst worden.

Wer es positiv sieht, kann die Idee des BGH als Anregung an Ärzte und Angehörige sehen, in eigener Verantwortung zu erörtern, ob eine medizinische Maßnahme (PEG, Intensiv-station) „noch“ ergriffen werden soll oder nicht. Wenn aber vom BGH als Manko empfunden wird, dass Derartiges „im System des geltenden Rechts einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle von vornherein nicht zugänglich wäre“, so muss sich doch jeder gezwungen fühlen, eine gerichtliche Klärung herbei zu führen.

Natürlich gibt es Betreuer, die sich mit einer Entscheidung zum Lebensende des Betroffenen (oft Eltern oder Ehegatten) schwer tun und die Verantwortung an das Vormundschaftsgericht abgeben möchten. Auch viele Ärzte möchten amtlich bescheinigt sehen, dass man ihnen nichts anhaben kann. Solche Fälle lassen sich in der Praxis aber durch ein dokumentiertes Gespräch mit dem Richter klären und bedürfen nicht eines umständlichen Verfahrens, das sich – wie im Fall des BGH – auf viele Monate hinzieht.

Die Bescheidung der Amtsgerichte mit Leerformeln bringt nun auch nicht etwa mehr Sicherheit und Effizienz, sondern programmiert weitere Streitigkeiten vor. Wo es um’s Prinzip geht, gibt es kein Ende.







Nach der Vorstellung des BGH soll ein gerichtliches Verfahren entbehrlich sein, wenn die Ärzte keine Maßnahmen mehr anbieten. Der Amtsrichter muss prüfen, ob das der Fall ist. Er hat in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung der Beteiligten hin zu wirken.

Gelingt es ihm, dann wären wir endlich wieder genau so weit wie vorher.


In meiner Patientenverfügung steht, dass eine Reanimation später als drei Minuten nach meinem Herzstillstand verboten ist. Hält der Notarzt sich daran nicht (z.B. weil er die Verfügung nicht so schnell findet), so kann meinen Verwandten auf ihre Erklärung, die weitere künstliche Versorgung einzustellen und etwaige Apparate abzustellen, nicht entgegengehalten werden, es sei doch gelungen, mich „wiederzubeleben“ und auf niedrigen Niveau zu erhalten. Ich kann und will einen Herzstillstand, der mit einem rapiden natürlichen Hirnverfall verbunden ist, als mein irdisches Ende annehmen.

Das Letzte, was ich mir wünschen würde, wäre eine Klärung meiner Rechte beim Bundesverfassungsgericht, selbst wenn mir verborgen geblieben sein sollte, dass dem Betreuungsrecht ein entsprechendes Bedürfnis zu entnehmen ist.